Spurensuche und totes Metall
Alise und Sunny finden auf ihrem Ausflug nicht nur Fliegenpilze
„Wollen wir gleich die Shettys anspannen und eine Runde ausfahren?“ fragte Alise und biss herzhaft in ihr Salamibrötchen. Sunny, der gerade mit dem Experiment beschäftigt war, wieviel Honig wohl auf sein gebuttertes Rosinenmürbchen würde passen können, erwiderte: „Das ist eine gute Idee für heute Nachmittag.“
„Was tun wir bis dahin?“ fragte Alise gespannt.
Sunny biss von seinem Mürbchen ab, einen See goldgelben Honigs auf seiner Zunge genießend. Seelenruhig kauend, spülte er den Bissen schließlich mit einem Schluck Kakao herunter und sagte dann: „Lass uns mal zu der Stelle radeln, wo der Reitunfall passiert ist. Ich würde gerne den Zaun abgehen und – falls wir an den Anschluss kommen – den Strom abschalten. Muss ja nicht nochmal was passieren.“ Alise nickte, klopfte mit einem Löffel auf ihr Frühstücksei und überlegte: „Falls wir den Strom nicht abschalten können, wäre vielleicht ein Hinweisschild für Passanten hilfreich – oder besser gleich zwei, eines von jeder Seite.“
„Prima.“ stimmte Sunny seiner Freundin zu.
Versonnen ließ er seinen Blick über ihre langen Haare, das hübsche Gesicht und ihre grünen Augen gleiten, bevor dieser kurz am Dekolleté hängen blieb. Angesichts der Tatsache, dass die beiden momentan allein im Haus waren, schien es fast eine Schande zu sein, die Gunst der Stunde nicht zu nutzen, um … da riss ihn Alises Stimme aus seinen Gedanken.
„Blick heben.“ trällerte sie verschmitzt und lachte dann. Die Zeit des Errötens zwischen ihnen war vorbei und immer neuer selbstbewusster Expeditionen des anderen gewichen. „Willst Du noch ein Brötchen essen?“ versuchte Sunny seinen visuellen Ausflug zu überspielen. Alise lehnte dankend ab und so machten sich die beiden ans Aufräumen.
Nur Minuten später liefen sie, bestückt mit zwei rechteckigen Stücken Pappkarton, extra breitem Permanentmarker und Reißzwecken über den Hof zu ihren Fahrrädern. Dabei kamen sie an einer kleinen Gruppe arbeitender Menschen vorbei, die fröhlich miteinander schwatzend neben dem Offenstall einen hölzernen Unterstand bauten. „Bekommt Ihr Zuwachs?“ fragte Alise. Sunny antwortete: „Ja, meine Mama erzählte, dass drei neue Shettys kommen werden. Da die drei schwierig mit anderen Pferden sein sollen, haben die Besitzer mit meinen Eltern abgesprochen, den alten Hühnerstall abzureißen und dort einen kleinen Offenstall einzurichten.“
„Wer gibt denn freiwillig zu, dass seine Pferde ‚schwierig‘ sind?“ erwiderte Alise amüsiert und schüttelte ihre feuerrote Lockenpracht. „Jene, denen klar ist, dass ihre Ponys den Höllenhunden Cerberus und Brutus gleichkommen.“ entgegnete Sunny und küsste Alise auf die Lippen. Doch mit dieser zurückhaltenden Liebesbekundung ließ ihn seine Freundin wie üblich nicht davonkommen. Stattdessen grub sie ihre Hände in seine blonde Mähne, öffnete die Lippen und gab sich einem leidenschaftlich vorgetragenen Zungenkuss hin. Wie üblich spürte Sunny in diesem Moment ebenso ein prickelndes Feuerwerk auf seiner Haut wie plötzliche Enge in der Jeans.
Bei ihren Fahrrädern angekommen, wurden sie miauend begrüßt. Heisenberg hatte die Gelegenheit genutzt und sich in Alises großem Fahrradkorb zusammengerollt. Diesen Platz gab der rotgetigerte Kater nun nur ungern und im Tausch gegen intensive kraulende Zuwendung wieder auf. Sunny füllte seine stählerne Trinkflasche mit frischem Wasser aus der Leitung neben den Pferdetränken, winkte kurz dem älteren Gehilfen, der gerade mit zwei frisch gestopften Heunetzen über der Schulter in den Auslauf trottete und radelte gemeinsam mit Alise durch das Hoftor in den Vormittag hinaus.
Der Himmel war blau, füllte sich jedoch langsam mit Wolken. Auch der Wind war frisch und böig, sodass Sunny und Alise zu Beginn ihres Ausflugs eine kleine Gänsehaut spürten. Sobald sie aber durch die Bewegung aufgewärmt richtig in Tritt kamen, löste sich diese auf und sie spürten die milde Kraft, welche die spätherbstliche Sonne noch hatte. Der Wald hatte damit begonnen, seine Farben von sommerlichen Grün- in herbstliche Gelb-, Rot- und Brauntöne zu wechseln. Hie und da reckte ein Fliegenpilz seinen rot-weißen Hut zwischen der wachsenden Laubstreu hervor. Irgendwo über ihnen hörten sie das derbe Schnarren eines Eichelhähers.
Der Wanderer saß, seinen Feldstecher, ein Andenken seines verstorbenen Vaters, vor den Augen, auf dem dicken waagerechten Ast einer Buche, die ein Stück abseits des Weges stand. Auch er hatte die Fliegenpilze entdeckt und wissend gelächelt, sich dann jedoch für einige prächtige Steinpilze entschieden. Seine Beute in einem Körbchen verpackt neben sich, hatte er gerade auf der gegenüberliegenden Seite des Waldes einen Damhirsch erspäht, der sein mächtiges Geweih an einem Baumstamm wetzte. Dann schnarrte ein Eichelhäher und der Hirsch erstarrte, lauschend, witternd. Dann war er auch schon im Unterholz verschwunden. Nur Augenblicke später hörte der Wanderer zwei Fahrradfahrer den Weg hinaufkommen.
An der Weide angekommen, lehnten Alise und Sunny ihre Fahrräder an jene Birke, an welcher gestern auch David und Goliath kurzfristig festgemacht worden waren.
Vorsichtigen Schrittes und wachen Auges tastete sich Sunny dann, bewehrt mit ledernen Handschuhen, durch das hohe Gras zu der Stelle vor, wo der Draht des Elektrozaunes zwischen den Halmen lag.
Gut, dass er noch vor dem Frühstück daran gedacht hatte, sich aus der Hobby-Werkstatt seines Vaters einen Phasenprüfer mitzunehmen, lobte er sich. Mit diesem würde er gefahrlos feststellen können, ob die Litze wie tags zuvor stromführend war, so hoffte er wenigstens. Jetzt, in der Hocke, mit dem Phasenprüfer in der Linken, kamen Sunny Zweifel, ob diese Maßnahme sinnvoll war. Immerhin war das hier kein Hausstrom und möglicherweise reichte der Strom in der Litze gar nicht aus, das im Griff des Phasenprüfers integrierte Lämpchen zum Leuchten zu bringen.
„Strom ist keiner mehr drauf.“ sagte Alise gerade, das eine Ende der Litze zwischen den Fingern haltend. Sunny fielen zuerst verdutzt fast die Augen aus dem Kopf, dann lachte er nervös auf. „Hast Du da einfach drangefasst?“ fragte er. Alise zuckte mit den Achseln. „Klar. Viel Strom kann da ja nicht mehr drauf sein. Klacken hab‘ ich keins gehört und das viele Gras wirkt als Widerstand.“ Sunny empfand wieder einmal respektvolle Bewunderung für Alise, konnte aber auch etwas amüsierte Beschämung nicht ganz leugnen. Er musste mit seinem Stromprüfer reichlich dämlich ausgesehen haben. Aber sein Vater Degenhardt Sonnenberger hatte ihn mehr als einmal in seinem jungen Leben nachdrücklich belehrt, Respekt vor elektrischem Strom zu haben.
„Die Litze ist gerissen. Oben und unten.“ stellte Alise gerade fest. „Vermutlich da hinten beim Abzweig nach Herzogfels – nein, etwas weiter vorne.“ stellte Sunny mit zusammengekniffenen Augen fest, als er mit seinen Augen den Verlauf des Drahtes betrachtete. Gemeinsam wickelten sie die Litze vorsichtig, um sich an dem Draht nicht zu verletzen, in lockeren Schlaufen auf und näherten sich dabei jenem Zaunpfosten, welcher dem Abzweig am nächsten lag.
Sofort fielen ihnen nun die Reifenspuren auf. Breites Geländeprofil hatte sich in den vom letzten Regen aufgeweichten Lehmboden gedrückt, der die Zufahrt zu dem alten Gemäuer bildete. Auf den zweiten Blick war nun auch erkennbar, dass sich das Gefährt, zu dem diese Spuren gehörten, über die Wiese und durch den Weidezaun bewegt haben musste. Das dabei niedergedrückte Gras hatte damit begonnen, sich wieder aufzurichten.
„Da hat wohl einer ‚Rodeo‘ gespielt und seinen Geländewagen ein bisschen ausgefahren.“ mutmaßte Sunny. „Und den Zaun umgerissen. Hoffentlich hat er ein paar ordentliche Kratzer im Lack.“ grummelte Alise. „Könnte auch sein, dass der Zaun schon vorher durchhing und der Fahrer hat es nicht gesehen.“ überlegte Sunny laut weiter. „Ist aber unwahrscheinlich, das gebe ich zu.“
In diesem Moment hörten beide ein dunkles Motorengeräusch, das schnell näher kam. Aus der Gegenrichtung, aus der Sunny und Alise hergeradelt kamen, schwoll außerdem ein infernalisches Wummern und Kreischen einer Musikanlage an. Seite an Seite beobachteten die beiden Teenager einen matt lackierten Pickup in Tarnfarben, der mit hoher Geschwindigkeit den Feldweg entlang brauste. Am Kühlergrill thronte ein gewaltiger schwarzer Kuhfänger. Mit quietschenden Bremsen legte sich der Wagen in die Links-Kurve der Zufahrt und beschleunigte dann wieder. Das letzte, was Sunny und Alise von dem Fahrzeug sahen, war ein Paar verchromter „Bullenklöten“, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte. Sunnys Sinne hatten noch Zeit, einen aufgeschreckten Fasan wütend keckern zu hören. Dann verschwand der Pickup hinter den Bäumen außer Sicht.
Fortsetzung folgt…
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