„Grenzen der Autonomie – Grenzen des Systems“

Was haben kalte Füße mit den Grenzen des Systems zu tun? Und woher kommt diese Rivalität zwischen Bielefeld und Viersen? Diese und noch weitere Erkenntnisse möchte ich hier kurz vorstellen.

Ja, Bielefeld scheint es doch zu geben, zumindest gibt es einen Dr. Martin Reker, der dort als Psychiater und Psychotherapeut die Abteilung Abhängigkeitserkrankungen der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie leitet, und teils ernst, teils humorvoll, den Startschuss in die Referentenvorträge beim 11. Fachtag des GPV Kreis Viersen gab.

Sein Thema: „Hard to reach“: Im Dialog mit Menschen, deren Verhalten uns an unsere Grenzen zu bringen droht. Anschaulich berichtete er über Erfahrungen mit Menschen, die sich nicht so einfach helfen lassen wollen, und die zum Teil von einer „Verwahrstelle“ zur nächsten geschoben werden, bis sie den für sie geeigneten Platz gefunden haben. Spaßhaft drohte er auch mit einer Verlegung dieser Patienten nach Viersen, war sich aber nicht sicher, ob hierfür das „Deutschland-Ticket“ ausreicht. 🙂

Weiter ging es mit Dr. Heike Guckelsberger, die sich als Fachbereichsärztin Forensische Psychiatrie der LVR-Klinik Viersen mit denjenigen beschäftigt, die die Grenzen des Systems schon überschritten haben. Unter dem Titel „Forensik/Nachsorge – Schwierigkeiten der Re-Integration“ lag der Fokus ihres Beitrags auf den rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Ralph Erdenberger, unter anderem bekannt als Radiomoderator bei WDR 5, der vor der Mittagspause zwei Betroffene zum Thema „Grenzen der Selbstbestimmung und der Autonomie in der Realität“ interviewte. Er hatte vom letzten Fachtag gelernt und war mit warmer Kleidung ausgestattet, worum ihn die Sandalen- und Kurzarmträger unter uns beneideten…denn die Temperaturen in der alten Kirche Lobberich waren im Vergleich zum sonnigen Wetter draußen doch recht frisch. Ansonsten war die Location sehr beeindruckend, und die Verpflegung in den Pausen super!

Aber zurück zum Thema: Bettina Jahnke, Journalistin und EX-IN Trainerin, und Hans Gerd Dohr, Peer Begleiter, stellten sich den Fragen des Moderators und erklärten jeweils aus ihrer Erfahrung, was ihnen am besten tut, wenn sie an ihre Grenzen geraten: Wie sieht der Notfallplan aus, wer ist informiert, bei wem oder wo finde ich Schutz und adäquate Hilfe. Spannend und aus dem Leben gegriffen, und beeindruckend wie den beiden der tägliche Spagat zwischen Hilfe für andere und Hilfe für sich selbst gelingt.

Auf den Weg diesen Spagat zu meistern habe ich mich auch begeben. Als langjährige Erfahrungsexpertin in der Psychiatrie habe ich mich auch für eine Weiterbildung zur EX-IN Genesungsbegleiterin entschieden und absolviere derzeit verschiedene Praktika in diesem Bereich. Sonja und Thorsten habe ich durch einen Vortrag kennengelernt und sie „überredet“, mich an ihrem Fachwissen und ihrer selbständigen Arbeitsweise teilhaben zu lassen. Und so bin ich seit einem Monat stolze Praktikantin der „Erfahrungsexperten am Niederrhein“.

Nach der Mittagspause gab uns Dr. Ingo Spitczok von Brisinski einen Einblick in die „Autonomie und Selbstbestimmung in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen“, wie er sie als Fachbereichsarzt in der LVR-Klinik Viersen erlebt. Besonders bewegt hat mich seine Erfahrung, dass Eltern manchmal auch gegen das Wohl des Kindes agieren, und welche rechtlichen Möglichkeiten ihm dann zustehen, den Willen des Kindes nach ärztlicher Hilfe umsetzen zu können. Was muss das mit einem Arzt machen, der ja auch nur ein Mensch ist, wahrscheinlich selber Kinder hat, wenn er so zwischen den Fronten steht…

Beim letzten Referenten lief es einem kalt den Rücken runter und das nicht nur wegen der Temperatur in der Kirche.
Dr. Michael Wunder, Psychologe und Psychotherapeut im Ruhestand, ehemaliges Mitglied in der Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin des Deutschen Bundestages und des Deutschen Ethikrats, referierte über „Suizidalität und der freie Wille“. Er beleuchtete besonders die aktuelle gesellschaftliche Lage zum Thema assistierter Suizid.

Puhhh… ein schwieriges Thema. Behutsam rübergebracht aber doch sehr eindrücklich in der Botschaft, dass noch ganz viele Fragen offen sind.
Soll man bei nicht ausreichender Dosis als passiver Helfer nachhelfen oder retten, ist nur eine der vielen Fragen, mit denen wir uns als Gesellschaft beschäftigen müssen. Und wie schafft man den Spagat zwischen notwendigen bürokratischen Hürden, um die Absicht des Suizidwilligen genau zu prüfen, und einer Überlastung durch bürokratische Hürden, die zu Taten führen könnten, bei denen andere Menschen ungewollt in Mitleidenschaft gezogen werden.

Viel „food for thought“ und die Erkenntnis, dass es sich gelohnt hat, den weiten Weg ins niederrheinische Nettetal auf sich zu nehmen.

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