Speaker’s Corner – Der Spatz ist mir zu klein
Ein weiterer Beitrag unseres Gastautors Udo Klingen.
Ein Erfahrungsbericht mitten aus dem Leben, auf seiner Wanderung auf den verschlungenen Pfaden von Recovery, Salutogenese und Empowerment.
Er erzählt von einer Begebenheit, die sich am 03.07.2020 zugetragen hat.
Euer Alex
Der Spatz ist mir zu klein
Gestern war wieder so ein besonderer Tag, dessen Besonderheit mir erst nach einem Tag Abstand so langsam, aber ganz langsam, klar wird.
Anstatt hier sofort zu schreiben, was mir so durch den Sinn geht, sollte ich lieber alles noch mal genau durchdenken, wie ich es meistens tue.
Doch mich drängte es, meine unausgegorenen Gedanken mit Euch zu teilen.
Auf diese Weise gebe ich euch einen weiteren Einblick in meine Gedankenwelt, warum ich das tue, … keine Ahnung, aber ich tue es.
Gestern war ich nach langer Zeit, wieder mal auf einem persönlichen Treffen der Recovery Gruppe.
Ich habe es durchaus genossen.
Doch was den Tag so besonders gemacht hat, war weniger die Recocergruppe, als mehr die Gespräche davor und danach.
Rückblickend betrachtet, fühlt ich mich den größten Teil meines Lebens in der Position des Einäugigen unter den Blinden, in den letzten Jahren sehe ich mich immer öfter in der Position des Blinden unter den Einäugigen.
Es wurde mir heute bewusst.
Gestern befand ich mich im Gespräch mit Menschen, die im Gegensatz zu mir genau wissen, wovon sie reden.
Während ich sehr, sehr oft nur aus meinem Halbwissen schöpfe und drauf los plapper.
In solchen Momenten komme ich mir sehr schnell entsetzlich klein und unendlich dumm vor.
Ich fühle mich am falschen Platz, und mir kommen alte Sprüche in den Sinn, wie: Schuster bleib bei deinen Leisten.
Diese Sprüche aus meiner Kindheit haben durchaus ihre Berechtigung.
Aber nicht immer und nicht in jeder Lebenslage.
Wenn ich immer bei meinem Leisten bleibe, kann ich mich nicht entwickeln und bleibe für den Rest meines Lebens auf dem gleichen Wissensstand.
Das ist mir zu wenig!
Mich verlangt nach der Taube auf dem Dach, denn der Spatz ist mir zu klein!
Mein kleines Hirnchen arbeitet.
Es schuftet.
Plagt sich.
Es qualmt. (Oder is dat nur die Kippe in meiner Hand?)
Und die Arbeit lohnt sich.
Während mein Eltern mir bei brachten, dass man in seiner „Geselschaftsschicht“ bleiben soll, will ich höher hinaus.
Ich will mehr.
Ich will mehr Wissen wissen.
Auch wenn ich mir oft wünsche, weniger zu wissen. Durch mehr Wissen lerne ich auch mit den Situationen um zu gehen, in denen ich lieber weniger wüsste.
Während mein Hirnchen sich plagt, wird mir klar, in welch erlesenen Kreisen ich mich heute bewegen darf.
Ich unterhalte mich mit Menschen, die einen hohen Bildungsstand haben.
Als ehemaliger Hauptschüler ohne Abschluss, empfinde ich das als eine Ehre, die mir diese Menschen zu teil werden lassen und es erfüllt mich mit Dankbarkeit, aber in erster Linie mit Stolz.
Ja, ich fühle mich klein und dumm, wenn ich mit “die Studierte Köpp“ zusammensitze und versuche, auf ihrem Niveau zu kommunizieren.
Wenn ich das dann auch noch Frank und frei sage, bekomme ich zur Antwort: „Du bist nicht dumm und du brauchst dich nicht klein zu fühlen.“
Ich mache solche Äußerungen auch nur bei Leuten, denen ich, warum auch immer, vertraue.
Vielleicht legen sie es auch als „Fisching vor Kompliments“ aus, das weiß ich nicht. Doch ich kann versichern, dass es das nicht ist. Ich habe einfach den Mut, zu meinen Empfindungen zu stehen.
Manch einer nennt das auch Dummheit, aber ich bin in meiner Entwicklung weiter als Herr/Frau Mancheiner.
(Hat mich viel Zeit und Schmerz gekostet, ist es aber wert.)
Ich denke, ich sollte und darf mich Wohl fühlen!
Und Ehrlich: das tue ich auch. Ich fühle mich wohl!
Wünsche euch allen ein wunderschönes Wochenende,
Euer Udo.
Ein ehrlicher Text, der mich sehr berührt hat, lieber Udo.
So long, Euer Alex
Ergänzung von Sonja
Lieber Udo, Deine Erzählung erinnert mich an eine Begebenheit aus dem Jahr 1996.
Carsten, der beste aller Ehemänner, war in jenem Sommer nach einem Studien-Jahr in Amerika nach Hause zurück gekehrt. Er wurde von seinen Freunden am Flughafen abgeholt und alle feierten zusammen im Garten. Just an jener Stelle, an der Du auch an jenem Freitag gesessen hast.
Die Gespräche und Diskussionen waren bunt, vielschichtig und höchst interessant. Einem der Gäste – ein junger Mann, der durch Carstens Auslandsjahr den Ausbildungplatz quasi von ihm „geerbt“ hatte – fiel plötzlich auf, dass er der einzige in der Runde war, der kein Abitur hatte. Er platzte heraus, dass er sich minderwertig fühle, weil er „nur“ einen Realschulabschluss habe.
Daraufhin meinte Carsten:
„Sieh es doch mal so – Du bist der einzige, der kein Abitur braucht, um hier mitzudiskutieren!“
Und genau das rufe ich auch Dir zu!
Deine Sonja
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