Abendliche Balzrituale
Ein Ehepaar mit reichlich Lebenserfahrung lässt entspannt den Tag ausklingen.
„Kannst Du nicht schlafen, mein Goldstück?“ Degenhardt Sonnenberger, gekleidet in nichts als karierte Boxershorts, stand in der geöffneten Tür des Badezimmers und schaute auf das Bett seiner Frau Emilia.
„Mir geht der Reitunfall von dem Zirkusmädchen nicht aus dem Kopf.“ antwortete diese. Vor ihr auf dem Plümo hatte sie wie üblich einen Klassiker liegen, in welchem sie vor dem Einschlafen las, diesmal ‚20.000 Meilen unter dem Meer‘ von Jules Verne.
„Mir will nicht in den Kopf, wie jemand eine stromführende Litze so einfach in der Gegend rumliegen lassen kann.“ fügte Frau Sonnenberger mit immer noch leicht empörten Tonfall in der Stimme hinzu.
Bereits beim Abendessen mit ihrem Gatten und Oma Irmelbert hatte sie sich über den Vorfall so sehr echauffiert, dass ihr fast die Tränen gekommen waren. Erst die sanftmütige Stimme ihrer Schwiegermutter, gepaart mit einer liebevollen Umarmung ihres Ehemannes, konnten sie zurück ins Hier und Jetzt holen. Wie Emilia wusste und auch durch mehrfache Erzählung Degenhardt und Irmelbert klar war, erinnerte sie der heutige Vorfall nur allzu schmerzhaft an ihren eigenen schlimmsten Reitunfall. Vor vielen Jahren war zwar kein herumliegender Elektrozaun der Auslöser, sondern ein umgefallener und von Gras überwucherter hölzenerner Zaunpfosten. Ihr erstes eigenes Pferd, Ramses, hatte sich daran einen Nagel eingetreten. Zwar hatte er dies unmittelbar durch heftiges Lahmen angezeigt, und Luitpold Pflanzgut, der damalige Tierarzt, hatte daheim im Stall den Nagel schließlich herausziehen können. Jedoch hatte Ramses schon bald einen schmerzhaften „Einschuss“, eine eitrige Entzündung, davongetragen, an welcher der Rappe schließlich eingegangen war. Es dauerte Jahre, ehe sich Emilia Sonnenberger von diesem traumatischen Ergebnis in ihrer Jugend erholt hatte.
„Ist vielleicht wirklich noch niemandem aufgefallen.“ nuschelte Degenhardt zähneputzend. Dann drehte er sich zum Waschbecken um und spuckte aus, bevor er sich der anderen Seite seiner Zähne widmete.
„Möglich.“ räumte Emilia ein. „Aber normalerweise kontrolliert man doch seine Zäune…oder nicht?“
„Mann schon…“ kam es mit verschmitztem Augenzwinkern verwaschen neben der Zahnbürste hervor, während sich um Herrn Sonnenbergers Lippen dichter weißer Schaum bildete. „Wem gehört denn die Weide?“ fragte Degenhardt und drehte sich erneut zum finalen Spülen dem Waschbecken zu, spuckte zweimal aus und gurgelte den letzten Schluck bis tief in den Hals hinein. Leidlich war erkennbar, dass blubbernd eine Melodie gesummt wurde.
Emilia verdrehte amüsiert die Augen. Dass Männer anscheinend niemals ganz erwachsen wurden, dachte sie bei sich.
„Santa Maria?“ gab sie für den kurz darauf mit schalkhaft erhobener rechter Augenbraue am Fußende ihres Bettes stehenden Gatten den aktuellen und allabendlichen Tipp ab.
Degenhardt antwortete mit einem Grunzen und enthüllte mit gespielter Entrüstung „Smoke on the water“.
Achselzuckend schloss er schließlich: „Kein guter Musikgeschmack…“
„Das hängt ganz vom Interpreten ab.“ gab Frau Sonnenberger mit spöttisch funkelnden Augen zurück.
„Oder vom Hörgerät.“ murmelte Degenhardt gerade laut genug, dass seine Frau es hören konnte, worauf diese Miene machte, ihm ihr Buch an den Kopf zu werfen, was Herr Sonnenberger andeutungsweise mit übertriebenem Wegducken beantwortete. Damit war ihr kleines rituelles Kammerspiel abgeschlossen. ‚Balzverhalten‘ hätte ihr Sohn Sunny es wohl genannt. Ihm kamen diese liebevollen Neckereien, die er in früher Kindheit ganz selbstverständlich miterlebt hatte, als Teenager immer vor wie das Verhalten von in Einehe lebenden Vögeln, wie zum Beispiel Weißstörchen, die sich zu Beginn jedes Frühjahrs stets rituell ihre Zuneigung mitteilten, bevor sie mit dem Nestbau begannen.
„Die Wiese wird, soweit ich weiß, gar nicht genutzt. Offiziell gehört sie der Gemeinde, aber seit Jahren habe ich dort keine Kühe oder Pferde mehr draufstehen sehen.“ holte Frau Sonnenberger ihre Gedanken wieder auf die Tagesordnung.
„Warum sollte dann jemand Strom auf den Zaun geben – oder wohnt wieder jemand auf Herzogfels?“ gab Degenhardt zu bedenken. Herzogfels war der Name eines alten festungsähnlichen Gemäuers mit einem einzelnen trutzigen Wehrturm. Zwischen den saftigen Wiesen des Tals und dem angrenzenden Wald war es ein beliebtes Ausflugsziel für Wanderer gewesen, ehe es in den letzten Jahren zunehmend verfallen war.
„Nicht, dass ich wüsste. Da haben ja mal die Bewohner der Kommune drin gelebt. Aber die sind ja schon seit Jahren unten in der Tennenschlucht.“ Emilia erinnerte sich gerne an die etwas schrägen Mitglieder der linken Aussteigerkommune mit Namen „Pusteblume“. Von der Gemeinde kritisch beäugt, hatte sich der bunt zusammengewürfelte Haufen Lebenskünstler bald als schräg, aber harmlos erwiesen. Die Leute waren unter ihren Dreadlocks und Bärten sowie zahlreichen Piercings und Tattoos nett und hilfsbereit.
Doch trotzdem hatte der Gemeinderat sie schließlich mit der Androhung polizeilicher Räumung vertrieben. Mit Groll dachte Frau Sonnenberger an die hitzigen Diskussionen im Gemeinderat, bei der sich insbesondere Marc-Andres Vater, Hauptkommissar Büttelsbrunft, damals noch stellvertretender Polizeichef, aufgespielt hatte.
„Dann legen wir einfach eine so hohe Pacht fest, dass ‚Die‘ “ – und dieses Wort spie er förmlich aus – „sie keinesfalls werden bezahlen können. Dann sind wir das Problem los.“
Eduard Wurmlinger, damals noch Betreiber der Papiermühle, hatte sich während jener Sitzung als hauptsächlicher Wortführer zugunsten der Kommune entpuppt. Von deren Bewohnern war wie üblich niemand bei der Sitzung vertreten. Politik interessierte sie nicht, nur Liebe, Frieden und Landwirtschaft für den Eigenbedarf. „Diese Leute sind herzensgut.“ hatte Wurmlinger seinen Bariton durch den historischen Sitzungssaal hallen lassen. „Sie tun niemand‘ etwas zuleide.“
„Die bauen auf dem Gelände Drogen an.“ näselte die verwitwete Gräfin von Ziervogel, trotz 94 Jahren noch mit messerscharfem Verstand gesegnet und Alterspräsidentin des Gemeinderats.
„Gibt es dafür Beweise?“ schaltete sich der Bürgermeister, Georg Stubenrappe, ein.
„Die werden wir bei einer Durchsuchung schon finden.“ schnappte der stellvertretende Polizeichef.
Zum guten Schluss verfügte der Bürgermeister einen Kompromiss: keine polizeiliche Durchsuchung, aber die formal zugestellte Räumungsverfügung. Ein Schritt, der sich als überflüssig herausstellen sollte.
Die Kommune entging der angedrohten Räumung dadurch, dass sie bei Nacht und Nebel ihr Domizil geräumt und auf dem Hof des alten Theophan in der Tennenschlucht Zuflucht gefunden hatte.
Im Nachhinein hatte sich dies sogar als Glücksfall erwiesen, waren sie dort doch nicht mehr nur geduldet, sondern sogar erwünscht. So konnten sie auf dem Land des ehemaligen Angehörigen des Zisterzienserordens, der seine Kutte bereits vor Jahrzehnten abgelegt hatte, Hof und Felder wieder in Schuss bringen, die mit wachsender Gebrechlichkeit Theophans gelitten hatten. Heute pflegten sie den mittlerweile dementen uralten Herrn wie selbstverständlich in ihrer Mitte. Nicht selten sah man „Theo“, wie er meist gerufen wurde, nun als verhutzeltes Männlein unablässig brabbelnd, gestikulierend und sabbernd in seinem Rollstuhl sitzend, wie er von einem Bewohner der Kommune durch Freudental geschoben wurde.
„Morgen ist Bauernstammtisch. Soll ich das da mal ansprechen?“ fragte Herr Sonnenberger gerade und holte seine Frau erneut aus ihren Gedanken.
„Mach das.“ ermunterte sie ihn. „Ich werde morgen mal Falk ansprechen, wenn er den Miststreuer abholen kommt. Vielleicht weiß er, ob die Wiese verpachtet ist.“
„Apropos…“ sagte Degenhardt mit verführerischer Stimme, „ist die andere Hälfte Deines Bettes auch zu verpachten?“
„Heute Abend nicht.“ antwortete Emilia verschmitzt. „Ich muss zu früh raus. Karl soll sich mal den Pickup ansehen.“
„Was fehlt ihm denn?“ antwortete Degenhardt und unterdrückte ein Gähnen.
„Die Kupplung fühlt sich komisch an.“ sagte Frau Sonnenberger und klappte ihr Buch zu. Ganz leise, kaum hörbar, begann irgendwo über ihnen ein Klavier zu spielen.
„Dann ist Manfred morgen früh auf sich gestellt.“ resümierte Herr Sonnenberger. „Ist für die jungen Leute ganz gut, wenn nicht ständig die Eltern als Anstandswauwau dabei sind.“ gab seine Frau zurück.
„Als ich in Manfreds Alter war, hatte ich die Frau meines Lebens gefunden.“ erinnerte sich Degenhardt und beugte sich über das Bett seiner Frau.
„Ohne es damals schon zu wissen.“ grinste Emilia und küsste ihren Gatten sanft auf den Mund. „Gute Nacht, mein Schatz.“
„Gute Nacht, mein Goldstück.“ sagte Degenhardt, schloss die Tür und durchschritt das Badezimmer, um sein eigenes Schlafzimmer zu betreten.
Fortsetzung folgt…
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