Knistern im hohen Gras
Sunnys Ausritt führt zu einer unverhofften Begegnung der etwas anderen Art
Die wundersame Ménage à Trois um Sunny, David und Goliath ritt gemeinsam aus, ohne ein konkretes Ziel vor ihren sechs Augen zu haben.
Sunny genoss den ruhigen Schaukelpferdgalopp des Shirehorsewallachs und stellte sich vor, wie der Boden unter dessen Hufen erbebte. Seine wallende Mähne im Wind wehend, lief das Mini-Shetty Goliath mal vor, mal neben und mal hinter seinem großen Pferdefreund und dessen Reiter.
Der Wald war herbstlich gelb und rot gefärbt und die frische Brise wartete gar mit dem ersten braunen fallenden Laub auf, das wie Konfetti in Wolken von den Bäumen jenseits des kleinen Flusses geweht wurde, an dem der Reitweg entlang führte.
Sunny ließ die Zügel locker und David dehnte seinen Hals und nahm seinen großen Kopf herunter in entspanntem Lauf.
Ihr Weg würde sie durch ein kleines Wäldchen am Baggersee vorbei auf eine große Wiese zu führen, auf welcher in geraden Jahren der Mittelaltermarkt stattfand.
Nicht weit vor dem mit Weideland gesäumten Waldrand ging es eine Kuppe langgestreckt sanft hinauf, und Sunny ermunterte David durch leichten Druck seiner Schenkel, die Anhöhe wie immer hinauf zu galoppieren. Sein Schecke hatte gerade beschleunigt, als Sunny aus geringer Entfernung ein schrilles Wiehern und einen kurzen spitzen Schrei hörte.
Instinktiv richtete er sich im Sattel auf und brachte David, der sich ob der plötzlichen Geräusche vor ihnen spürbar angespannt hatte, durch schnelle nachdrückliche Hilfen zum Durchparieren und ein lautes „BRRRRRRR“ in den Schritt. Goliath jedoch fühlte sich durch dieses Kommando offensichtlich nicht angesprochen, sauste vielmehr voraus und verschwand über den Scheitelpunkt der Kuppe hinaus außer Sicht.
„Shettys haben halt ihren eigenen Kopf.“ murmelte Sunny und überzeugte David, der sein Tempo wieder erhöhen wollte, in ruhigem Schritt weiterzulaufen.
Auf der Kuppe angekommen, erhaschte Sunny gerade noch den Blick auf ein panisch davon galoppierendes helles Pferd, gesattelt und mit Zaumzeug. Dessen Reiterin konnte er jetzt auch sehen, die rechts neben dem Sandweg auf dem bemoosten mächtigen Stumpf einer Buche kauerte, sich ein Knie hielt und vom neugierigen Goliath beschnuppert wurde.
Sunny wollte gerade absteigen, als die Reiterin „EH – VORSICHT“ rief und wild mit den Armen ruderte, um ihn zum Stehen zu bringen.
„Was ist d…“ wollte Sunny gerade fragen, als ein verräterischer metallischer Glanz im hohen Gras seinen Blick anzog.
Sofort brachte er David zum Stehen, ließ sich geschmeidig aus dem Sattel gleiten und spähte auf den Boden.
„Verdammt!“ zischte Sunny zwischen den Zähnen hervor. Die Litze eines Weidezauns schlängelte sich über Reitweg und umgebende Wiesen.
„Da is‘ Strom drauf!“ rief die Reiterin nachdrücklich.
Sunny führte David zu einer alten Birke, die unweit der Kuppe stand, welche sie gerade noch unbeschwert hinauf hatten galoppieren wollen und band seinen Wallach dort fest. Dieser, in Sichtweite seines kleinen Begleiters wieder die Ruhe selbst, begann zu grasen. Goliath ließ von der Reiterin ab, machte einen weiten Bogen um die im Gras liegende Litze und gesellte sich wieder an die Seite von David.
Sunny machte einen großen Schritt über den Draht des E-Zauns und ging auf die Reiterin zu. Jetzt erkannte er auch, dass es ein Mädchen etwa in seinem Alter war. „Bist Du verletzt?“ fragte Sunny und ein Teil von ihm tadelte sich direkt dafür ob soviel zur Schau gestellter Scharfsinnigkeit.
„Ick hab‘ mir det Knie verdreht un‘ en‘ paar Schrammen aber hauptsächlich bin ick sauer uff det blöde Rotzgöhr!“ schallte ihm die Antwort entgegen. „Wenn ick die erwisch’…un‘ die, die den Weidezaun hier ham‘ ‚rumliejen lassn‘ “ grummelte sie dann und zog schnaubend Rotz durch die Nase hoch. Ihre Augen waren gerötet wie vom Weinen.
Sunny befand sich gerade in seinem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sein Kopf immer noch dabei war, die überraschende Begegnung einzuordnen. Ihm fiel eine Bezeichnung Oma Irmelberts ein, mit welcher diese Menschen, die ganz anders als die Masse waren, betitelte: Gesamtkunstwerk. Jedoch hatte Sunny diesen Begriff immer als sarkastisch aufgeladen empfunden.
Die junge Reiterin vor ihm schien in keine der ihm geläufigen üblichen Schubladen zu passen, außer, dass ihn ihre Erscheinung in den Bann zog. Ein außergewöhnlich hellbrauner Teint umrahmte volle dunkelbraune Lippen. Mandelförmige große Augen, so blau wie die Eisbonbons, die seine Mutter manchmal lutschte und ein dichter Schopf dunkelbrauner, zu Dreadlocks gewundener Haare.
„Faszinierend…“sagte Mr. Spock alias Leonard Nimoy – Gott-hab-ihn-selig – in Sunnys Kopf.
„Wat?“ fragte das Mädchen und Sunny wurde schlagartig bewusst, dass er wieder einmal laut gedacht hatte.
„Ähhh…nichts wichtiges, meine ich.“ stieß er hervor. Dann hatte er sich wieder gesammelt und fragte: „Kannst Du aufstehen und gehen? Brauchst Du einen Arzt?“
„Nee, nur een Taschentuch. Loofen kann ick schon alleene.“ kam die launige Antwort zurück.
„Sorry…“ antwortete Sunny mechanisch und verdrehte die Augen. „Ich stelle eine Menge dummer Fragen.“
„Schon jut. Ick bin ooch ziemlich zickig jerade.“ Sie stand vom Baumstumpf auf, nahm das von Sunny angebotene Taschentuch und ging probeweise ein paar langsame Schritte, was eher leidlich klappte. Das rechte Knie wirkte instabil und schmerzte bei jedem Schritt.
„Du kannst Dich auf mein Pferd setzen. Dann bringe ich Dich zum Arzt nach Freudental.“ erklärte sich Sunny bereit.
„Det wär‘ echt nett.“ antwortete das Mädchen und setzte zu einem Trompetenstoß in das Zellstofftaschentuch an. „Ick bin übrigens Mira.“ fügte sie dann hinzu.
„Sun…fred…äh…ich meine…ich bin Sunny, aber meine Familie nennt mich Manfred.“ stotterte Sunny. Er hätte sich für seine Unsicherheit ohrfeigen können. Was war nur los mit ihm?
Gemeinsam gingen bzw. humpelten sie langsam auf die Birke zu, unter deren gelb werdender Krone David und Goliath grasten.
Neben dem Shirehorse angekommen, machte Sunny Miene, Mira auf das Pferd zu heben, weil er davon ausging, dass sie das Aufsteigen ohne Hilfe mit ihrem verdrehten Knie nicht würde bewältigen können. Doch ein energisches „Finger weg, sonst Finger ab!“ hielt ihn von seinem Vorhaben ab.
Mira griff mit beiden Händen fest Vorder- und Rückseite des Westernsattels, schwang ihren gertenschlanken Körper mit der Behendigkeit einer Raubkatze in die Höhe, sog kurz zischend zwischen den Zähnen die Luft ein, als ein scharfer Schmerz ihr verletztes Knie durchzuckte wie ein glühender Pfeil. Trotzdem ließ sie sich sanft auf Davids Rücken gleiten.
„Wow, Du könntest Akrobatin sein!“ entfuhr es Sunny mit aufrichtiger Anerkennung.
„Det bin ick. Ick komme vom Zirkus Kasimir. Wir sind seit jestern hier bei Euch in Freudental. Zum ersten mal hier fürs Winterlager auf der großen Wiese da runter.“ Sie deutete in die Richtung, in die ihr Pferd geflüchtet war.
„Wir müssen nachher Dein Pferd suchen gehen, am besten, bevor es dunkel wird.“ überlegte Sunny laut, während sie zu Fuß bzw. im Schritt den Rückweg nach Freudental antraten.
„Nee, det gloob ick nich'“ erwiderte Mira und schüttelte ihren Kopf, dass die Dreadlocks flogen. „Det Göhr is‘ sischer schonn wieder am Lagerplatz, Heu mümmeln. Die hat nen eenjebauten Kompass, der immer Rischtung nahause zeicht.“
Den breiten Berliner Dialekt seiner Begleiterin fand Sunny irgendwie apart. Er fügte ihrer Erscheinung ein buntes Detail hinzu, ebenso wie der kleine silberne Ring durch ihre Nase.
Sich munter unterhaltend hielt die kleine Gruppe auf die in der goldenen Herbstsonne liegende kleine Stadt Freudental zu.
Fortsetzung folgt…
Schreiben Sie einen Kommentar