Momente unterm Apfelbaum
Sunny leistet Mira Beistand
Oma Irmelbert saß in ihrem bequemen Schaukelstuhl unter dem großen Apfelbaum, der neben der gekiesten Zufahrt zur grün gestrichenen Eingangstür des Sonnenberger Hofes stand. Jetzt, im Herbst, war die Luft durchzogen vom verführerischen Duft reifer rotbackiger Äpfel. In den höchsten Zweigen des Baumes saß eine Gruppe Stare, die sich schwatzend darauf vorbereiteten, ihre Schlafbäume im nahen Hexenholz aufzusuchen. Auf Oma Irmelberts Schoß lag zusammengerollt eine sehr dürre Katze, deren Knochen sich gegen das mit dem Alter stumpf gewordene Fell abzeichneten. Sanft kraulte die alte Dame den krummen Nacken des Vierbeiners, während ihr Schaukelstuhl langsam vor und zurück wiegte.
Oma Irmelbert hatte mit ihrer Tochter Emilia Sonnenberger und ihrem Schwiegersohn Degenhardt gut zu Abend gegessen, Welsfilet in Butter gebraten und dazu Krautsalat aus dem ersten Spitzkohl der Saison. Den Fisch hatte der alte Eduard Wurmlinger, der früher die Papiermühle im Dorf betrieben hatte, selbst aus dem Erkersweiher gezogen. Zum Dank für einige Näharbeiten hatte Wurmlinger eines Nachmittags vor Oma Irmelbert gestanden, den einvakuumierten Fisch in den Händen.
Zufrieden gesättigt, ein Pfefferminzdrops lutschend, genoss Oma Irmelbert den lauen Abend, ihr Strickzeug wie immer griffbereit auf dem Holztisch neben sich. Sie genoss das Kitzeln der ersten zarten Ausläufer der kühlen Nachtluft, die sich über den Boden schlängelte, ebenso wie die gleichmäßig rasselnden Atemzüge der hellbraun und weiß gescheckten Katze.
Ein näher kommendes Motorengeräusch erregte Oma Irmelberts Aufmerksamkeit. Kurz war sie iritiert – wer kam um diese Zeit noch die Auffahrt hinauf gefahren, etwa ein spontaner Pensionsgast? Dann fiel es ihr jedoch wie Schuppen aus den Haaren: das musste Sunny sein!
Da rollte auch schon ein VW-Bulli an ihrem Sichtfeld vorbei und kam knirschend vor den breiten Stufen zur Haustür zum Stehen. „Zirkus Kasimir“ stand in rot-weißen Lettern auf dem himmelblauen Lack des Fahrzeugs. Darunter war in kindlich runden Formen ein Löwe mit einem Knoten im Schwanz gezeichnet. Lack und Zeichnung wirkten selbst im schmeichelnden Licht der Abendsonne ausgeblichen und an einigen Stellen des Fahrzeugs schimmerte rotbrauner Rost hindurch.
„Der Zirkus hat sicher auch schon bessere Tage gesehen.“ murmelte Oma Irmelbert vor sich hin. Sie betrachtete fasziniert die in den Scheinwerferkegeln auf und nieder tanzenden Mücken. Da hörte sie ein metallisches Klingeln und hob den Arm, um dem freundlichen älteren Herrn zu winken, welcher gerade mit ihrem alten Klapprad um das Gebäude herum fuhr, um zum hinter dem Bauernhaus gelegenen Eingang zu den Pensionszimmern zu gelangen.
In diesem Moment sprang auf der Beifahrerseite die Tür des soeben eingetroffenen Fahrzeugs auf und Oma Irmelbert hörte Sunnys Stimme „Dankeschön für das Heimbringen“ rufen. „Da diskutier‘ ick nich‘ mehr drüber.“ kam es gutgelaunt vom Fahrer des Wagens zurück, dessen über und über tätowierter linker Arm lässig aus dem Fenster an der Fahrerseite hing. „Tschü-üüss“ rief eine Mädchenstimme, deren Besitzerin auf der Rückbank sitzen musste. Dann ließ der Fahrer seinen Wagen vorsichtig ein Stück nach hinten rollen, wendete und kehrte den Weg zurück, den er gekommen war. Kurz rümpfte Oma Irmelbert ob der Wolke verbrannten Dieselgeruchs die Nase, ehe sie sich ihr Taschentuch, selbstverständlich aus Stoff und mit den Initialen ihres seit langem verstorbenen Ehemannes, aus der Tasche ihrer Strickjacke zog und sich vor die Nase hielt. Kurz genoss sie den frischen Geruch nach Kölnisch Wasser, mit dem sie ihre Taschentücher parfümierte.
„Hallo Oma.“ trompetete Sunny und winkte.
„Da ist ja unser verlorener Sohn wieder.“ antwortete diese und ihr gutmütiges Gesicht legte sich in freundliche Falten. „Wie geht es dem gefallenen Mädchen?“ fügte sie mit schalkhaftem Augenzwinkern hinzu.
Sunny, dem die Doppeldeutigkeit dieser Frage vollkommen entging, wie es häufiger bei ähnlichen Situationen der Fall war, ließ sich im Gras vor dem Schaukelstuhl auf den Hosenboden fallen und erstattete Bericht:
„Zuerst dachte ich, der Schreck war schlimmer als der Sturz, weil sie nur wenige Schmerzen hatte. Aber auf dem Weg zu Dr. Kleine-Sägemann ist das Knie mächtig angeschwollen.“
Sunny fuhr sich mit der Hand durch seine langen blonden Haare, die etwas mitgenommen aussahen.
„Hat er das Mädchen geröngt?“ fragte seine Oma weiter.
„Jawohl – kein Schaden am Knochen, aber wahrscheinlich an den Bändern. Das konnte er nur durch Röntgen aber nicht wirklich beurteilen wie schlimm. Der Doc hat seinen Schwager angerufen und morgen früh fahren Mira und ihr Vater zu ihm zum CT oder MRT.“
Der Schwager des beliebten Dorfarztes leitete eine Radiologiepraxis in der Großstadt.
„Manfred! Endlich!“ erschallte es da vom Haus her. Seine Mutter war im Türsturz des Bauernhauses aufgetaucht. Sein Vater stand, soviel ließ die Silhouette im Gegenlicht verraten, hinter ihr, seine Arme um ihre Taille gelegt und seine Hände neckisch von hinten in den Taschen der geblümten Schürze seiner Frau steckend. Das ließ seine Mutter ihm normalerweise nur selten durchgehen, weil sie das albern fand. Sunny registrierte diese liebevolle Geste zwischen seinen Eltern mit Wohlwollen.
„Geh man ‚rein, Junge.“ forderte Oma Irmelbert ihren Enkel nun auf. „Du musst einen Bärenhunger haben.“ Selbstverständlich hatten die Erwachsenen genügend übrig gelassen, um einen heranwachsenden sportlichen Teenager satt zu bekommen.
Sunny drückte seiner Oma noch einen Kuss auf die Wange, streichelte sanft über das Fell der mittlerweile aufgewachten Katze und lief dann zu seinen Eltern, um von seinem heutigen Abenteuer zu erzählen.
Es war gut, dass Sunny vor der Untersuchung von Mira daran gedacht hatte, Alise anzurufen. Diese hatte beschlossen, sich dann gar nicht erst auf den Weg zu machen, sondern am folgenden Morgen mit frischen Brötchen aus dem Dorf aufzutauchen, um mit ihrem Freund gemeinsam frühstücken zu können. Gemeinsam hatten sie dann entschieden, ihr geplantes Telefonat mit Teddy um einen Tag aufzuschieben und Alise hatte umgehend eine entsprechende Nachricht verschickt. Mira hatte noch vom Pferderücken aus das Handy ihres Vaters angerufen und ihn über ihren Unfall informiert. Von ihm erfuhr sie auch, dass ihre Fjordstute mittlerweile wieder zufrieden mit den anderen Zirkuspferden zusammen stand.
Sunny und Mira hatten kaum den Sonnenbergerhof erreicht und die Pferde versorgt, als auch schon ihr Vater auf den Hof eintraf, um Mira nach Freudental zum Arzt zu fahren. Sunny hatte kurz nachgeforscht, ob die Familie zugegen war, aber nur Oma Irmelbert angetroffen. Nach dem er kurz den Vorfall geschildert hatte, lief er wieder hinaus und bot seine Hilfe an, denn die Arztpraxis lag etwas versteckt. Er fühlte sich gewissermaßen ein wenig für Mira verantwortlich.
Miras Vater, ein großer, stattlicher und breitschultriger Mann mit kleinen dunklen Augen, stieg aus und nach einem Kuss für seine Tochter und einem Handschlag für Sunny mit den Worten: „Da ist ja unser Samariter.“ stimmte er zu, Sunny als ortskundige Begleitung mit zu nehmen.
Dr. Kleine-Sägemann hatte schon mit seinem allabendlichen Ritual begonnen, eine Pfeife zunächst zu säubern, zu stopfen und den Tabak schließlich mit einem Streichholz zu entzünden. Er saß zufrieden paffend vor seiner Praxis, als Sunny, Mira und ihr Vater ankamen. Ein Blick jedoch reichte, um sofort die Praxis wieder auf zu schließen und Mira zu untersuchen.
Danach saßen alle vier noch gemeinsam vor der Praxis und genossen jeweils ein Kaltgetränk ihrer Wahl, frisch aus dem Feierabend-Kühlschrank des Doktors. Dieser hatte auch seine geliebte Pfeife wieder entzündet.
Miras Laune war ob der vorläufigen Diagnose „Verdacht auf Bänderriss“ ziemlich geknickt, obwohl Sunny sie nach Kräften aufzumuntern versuchte.
„Sieh‘ mal, jetzt in der Winterpause habt Ihr ja eh‘ kaum Vorstellungen und bis zum Frühjahr bist Du bestimmt wieder die alte…“
An dieser Stelle gab der erfahrene Hausarzt ein kurzes Schnauben von sich und während er es schaffte, gleichzeitig belustigt und ernst auszusehen, sagte er:
„Realistisch geht man von etwa einem Jahr aus, die die Verletzung braucht, auszuheilen – egal ob mit einer OP oder einer konservativen Behandlung. Danach kann Mira ihr Bein wieder normal im Alltag belasten.“
Sunny schaute betreten auf seine Füße, während der Arzt hinzufügte:
„Aber Du bist noch ein junges Mädchen, Mira, dazu sehr sportlich – da kann es gut auch schneller gehen.“
„Bis ick im ALLTAG widda det Bein belasten kann!“ stieß diese empört hervor und einmal mehr verblüffte sie Sunny mit ihrer ungezügelten emotionalen Glut, die so ganz anders zu sein schien wie von anderen Mädchen, die Sunny kannte. „Mit Ausnahme von Alise natürlich.“ merkte eine Stimme in Sunnys Kopf auf. Doch selbst sie schien ihm nicht ganz so ungezähmt zu sein wie das Mädchen vom Zirkus. Vielleicht wurde man so, wenn man mit dem Zirkus durch das Land reiste.
In Sunnys Überlegungen hinein fügte Mira hinzu: „Bis ick für die Manege wieder fit bin, is‘ en‘ zweetes Jahr ‚rum – Oberkacke!“ Auch Miras Vater machte ein besogtes Gesicht, auch wenn er froh war, dass der Reitunfall keine noch schlimmeren Folgen hatte, denn Mira hatte wie üblich keinen Reithelm getragen, der über den Dreadlocks nicht passte. Er schaite auf die Visitenkarte des Radiologen in seiner Hand, die ihm der Doktor mit den Worten „Sagen Sie Rudi, dass er mir immer noch eine Revanche schuldet – er weiß dann, was gemeint ist.“ in die Hand gedrückt hatte.
Sunny musste an seinen Freund Teddy denken, der der Statistik bei 23 kleinen und größeren Reitunfällen stets seine volle körperliche Unversehrtheit abgetrotzt hatte, zuletzt bei ihrer unheilvollen Begegnung mit den Motorradfahrern in den Sommerferien. Vielleicht hatte Oma Irmelberts nicht selten geäußerte Lebensweisheit „Alles gleicht sich aus.“ doch einen wahren Kern und das Glück des einen wurde mit dem Pech des anderen erkauft.
Dr. Kleine-Sägemann nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, bevor er durch den leichten Nebel seiner ausgeatmeten, herbsüßlich riechenden Rauchschwaden im Brustton der Überzeugung sagte: „Warte erstmal den morgigen Tag ab. Es gibt hier gute Orthopäden in der Gegend und das Institut für Sportverletzungen in der Großstadt genießt sogar in ganz Deutschland einen hervorragenden Ruf. Außerdem führst Du ein Leben, wie es für die Reha solcher Verletzungen ideal ist. Du bist aktiv. Du willst Dich bewegen. Wie viele Jugendliche in der Großstadt sitzen nur rum, treiben keinen Sport und starren nur auf ihr Handy?“ Er unterstrich seine Rede mit energischen Gesten.
Sunny wollte das Gespräch ob des predigend werdenden Tonfalls in Dr. Kleine-Sägemanns Stimme schon auf ein anderes Thema lenken. Er wusste, dass sich der ältere Herr, der im nächsten Jahr pensioniert werden würde, sehr schnell und sehr leicht in blumige Erzählungen der Gattung „früher war alles besser“ ergehen konnte.
Sunny öfnete schon den Mund, als Miras Vater demonstrativ auf die Uhr sah und sich verabschiedete. Sie wünschten dem Arzt noch einen geruhsamen Feierabend.
Der Vater half seiner Tochter beim Einsteigen auf die Rückbank und meinte dann: „Steig ein, Sunny, wir bringen Dich nach Hause.“ Dankend nahm Sunny das Angebot an. Im zweiten Anlauf sprang der VW-Bulli hustend an und sendete schwarzblaue Flatulenzen in den goldenen Abendhimmel. Winkend verabschiedeten sie sich von dem Hausarzt.
Die Nase voll verbrannten Dieselgeruchs nahm Dr. Kleine-Sägemann den letzten Schluck seiner Cola, sammelte die leeren Dosen ein und schloss die Tür seiner Praxis ab. Lässig warf er sich, seine Pfeife im Mundwinkel, sein Sportjacket über die Schulter. Der Abend lud geradezu dazu ein, zu Fuß nach Hause zu gehen. Vielleicht würde er noch auf ein gepflegtes Feierabendbier und eine Partie Blitzschach in der Dorfschenke vorbei schauen. Seine Schritte in Richtung Kirchplatz lenkend, kreuzte ein bärtiger Fahrradfahrer, der mit seinem Klapprad klappernd über das Kopfsteinpflaster hoppelte, seinen Weg und die Kirchturmuhr schlug halb Sieben.
Fortsetzung folgt…
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