Die Guten-Morgen-Runde
Ein Erfahrungsbericht zum Thema „Schatzkiste“ über den Wert einer digitalen Umarmung von Eurem Schmusehamster (ak)
Vor kurzem hatte ich mit einer Freundin einen interessanten Austausch, welchen ich hier gerne mit Euch teilen möchte.
Nachdem ich ihr während der letzten Tage regelmäßig über WhatsApp ein digitales „Guten Morgen“ geschickt hatte, schickte diese Freundin mir schließlich eine Nachfrage. Wertschätzend, aber wohl etwas irritiert, fragte sie mich, was es denn mit diesem „Guten-Morgen“-Gruß auf sich habe.
Welchen Zweck dieser erfüllen sollte?
Ob ich ihr diesen Gruß nun jeden Tag schicken wolle?
Was klingt wie die Einleitung zu einer ziemlich seichten Ferienlektüre [„Der Sat-1-Film-Film!“, Anmerkung meines inneren Kängurus], bei der man nicht böse ist, wenn man das Buch nach ein paar Kapiteln abends am Strand vergisst, oder – und besser! – das bedruckte Papier die unfreiwillige Taufe mit wahlweise Sonnenöl, Speiseeis oder Erbrochenem der eigenen Kinder nicht übersteht, war für mich der Ausgangspunkt einer interessanten Selbstreflexion, die mich tief in die verzerrte Wahrnehmungswelt eines Asperger-Betroffenen führen sollte.
Zunächst entschloss ich mich zu einer knappen, dafür immerhin zügigen Antwort. Ich teilte meiner guten Freundin mit, dass ich das „Guten Morgen“ so lange schicken möchten würde, wie sie selbst dies wolle, d.h. solange ich es dürfe.
Dabei war mir klar, dass diese Erklärung nur die Ouvertüre eines ungleich längeren Absatzes werden sollte, in welchem ich dieser Freundin (und nicht zuletzt mir selbst) in Worte zu fassen versuchte, welche Bedeutung das digitale „Guten Morgen“ hatte.
Tatsächlich wurde ich 2017 erstmals mit dieser Methode bekannt, welche ich heute gerne in meiner seelischen „Schatzkiste“ vorfinde.
Teilnehmer des von mir besuchten „Montagskurses“ der PHG Viersen, aus welchem später die Keimzelle der Selbsthilfegruppe Phönix hervorgegangen ist, haben ihrerseits damit begonnen, mir ein digitales „Guten Morgen“ über WhatsApp zu schicken. Aus einem Grüßenden wurden über die Monate mehrere. Die Qualität der Nachrichten unterschied sich dabei. Manche Grüßende gaben ihrer Weiblichkeit Ausdruck und verpackten ihr „Guten Morgen“ in eine schöne digitale Postkarte, wahlweise mit Blumen, Tieren oder ähnlichen Motiven. Andere Grüßende hielten es schlichter mit bunten Emojis oder begegneten mir eher männlich konnotiert bzw. norddeutsch-knapp mit einem schlichten getippten „Guten Morgen“, oder – noch knapper, aber gefühlt nicht weniger herzlich – „Moin“.
Dabei ist für mich interessant, dass ich mich – unabhängig der jeweiligen künstlerischen Ausgestaltung oder eben Schlichtheit – über jede dieser kleinen digitalen Aufmerksamkeiten gleichsam freue. Entsprechend positiv kann ich in meinen Tag starten. Manchmal wirken diese Grüße auf mich wie über Nacht in braunem Rum getränkte Rosinen in einem butterzarten Stuten [gemeint sind hier nicht die weiblichen Pferde, dt.: die Stute (sg.)/die Stuten (pl.), sondern das Backwerk, dt.: der Stuten (sg.)/die Stuten (pl.) – Anmerkung meines inneren Kängurus] – sie spicken ansonsten eintöniges mit dem „gewissen Etwas“ – meinen regelmäßig wenig erfreulichen, weil schläfrig-muffeligen, Start in den Tag, zu nachtschlafender Zeit und auf Kaffee-Entzug, mit der ersten kleinen Freude des Tages.
Es dauerte nicht lange und ich war nicht mehr nur Empfänger des „Guten Morgen“, sondern selbst Versender, je nachdem, wer aus der „Guten-Morgen-Runde“ früher in den Tag startete. Ich gebe gerne zu, das sind die meisten, denn ich bin die Nachtigall und nicht die Lerche. [Der Vogel, nicht der Baum! – Anmerkung meines inneren Kängurus].
Aber zurück zum eigentlichen Thema:
Mit Beginn der Kontaktsperre habe ich den Personenkreis, welchem ich mein digitales „Guten Morgen“ schicke, erweitert. Seitdem sind nicht nur jene, die mich auf diese Methode gebracht haben, sondern weitere ausgesuchte Menschen Teil meiner allmorgendlichen „Glücks-Routine“. Es sind Menschen, die mir etwas bedeuten und die ihrerseits mir das Gefühl geben, dass ich ihnen etwas wert bin. Oft verbinden uns gemeinsame Erlebnisse oder Vertrauenssituationen während unserer Recovery. Ich könnte es auch derart formulieren, es sind Menschen, die jeder ihren Platz in meinem Herzen haben.
Nicht im Sinne Romeos, sondern eher Platons. Mir gefällt das Bild einer Kathedrale, in welcher, neben dem Haupt- und dem Querschiff, Seitenschiffe, sowie viele kleine Kapellen, angelegt sind und wo sich zahlreiche, große und kleine, Nischen finden, in denen jene Menschen, die ich meine, alle ihren eigenen, festen Platz haben. Dieses Bild habe ich jüngst durch meinen geschätzten Kollegen Mausebär (td) skizziert bekommen, kenne es aber auch aus meiner Kindheit, genauer gesagt von einem Trinkspruch eines meiner Onkel, der auf feuchtfröhlichen Familienfeiern in Gaststätten gerne den Erhalt eines neuen Kaltgetränks durch weibliche Serviererinnen in breitestem Schwäbisch mit den beseelten Worten würdigte: „In der Kathedrale meines Herzens werde ich eine Kerze für Sie entzünden.“
Aber ich schweife erneut ab.
Die „Guten Morgen“-Runde stellt für mich heute ein wichtiges und wertvolles Werkzeug meiner Recovery dar. Der digitale Gruß hilft mir dabei, mich seelisch gesund zu erhalten, ist also auch ein Mosaiksteinchen im Fundament meiner Salutogenese. Die positive Energie, die ich durch jeden Gruß erhalte oder versende, kann man als einen kleinen Akt des Empowerments sehen. In der Genesungsbegleitung empfehle ich dieses Werkzeug Interessierten gerne weiter, wodurch sich der Effekt des Empowerments vervielfacht, ähnlich eines positiven „Schneeballsystems“ [oder einer kaskadischen Aktivierung durch Phosphorylierung – Anmerkung meines inneren Biologen].
Die „Guten-Morgen-Runde“ hat für mich die Bedeutung eines digitalen Marktplatzes oder eines gemeinsam, d.h. von allen Bewohnern eines Hauses, genutzten Raumes, wem diese Vorstellung eher gefällt.
Ich begegne dort Menschen, die mir bekannt sind und die eine Bedeutung für mich haben – natürlich auch umgekehrt. Ich kann sie sehen und grußlos vorübergehen, lächelnd (Emojis!) oder verbal grüßen, bzw. gegrüßt werden. Ob ich einen Gruß erwidere, liegt in meiner Freiheit. Tue ich dies jedoch, haben beide – Grüßender und Gegrüßter – einen Moment der Freude. Ich bekomme das Gefühl, dass ich nicht allein bin, sondern Teil eines aufgebauten sozialen Netzes und gebe dieses Gefühl an andere Menschen weiter.
Gleich einer Begegnung auf der Straße, können beide Beteiligten frei entscheiden, ob aus dem einfachen Gruß eine (digitale) Umarmung, ein kurzes Schwätzchen, oder der Ausgangspunkt für ein längeres Gespräch wird.
Die „Guten Morgen“-Runde macht mein, im Laufe meiner Recovery aufgebautes, soziales Netz für mich fast physisch spürbar, also greifbar. Einen der wichtigsten Effekte dabei finde ich, dass durch dieses Kommunikationsmittel die für mich bei der Herstellung eines Sozialkontaktes auftretende Hemmschwelle, bzw. die dafür notwendige Aktivierungsenergie [mein innerer Biologe nickt zufrieden], herabgesetzt wird. Wie für viele Betroffene, ist gerade dieser kleine „Schubser“ hilfreich, einen Kontakt herzustellen oder zu vertiefen, d.h. einen über das Medium des digitalen Chats zustande gekommenen Austausch von Befindlichkeiten als „Sprungbrett“ für ein Gespräch über einen anderen digitalen Kanal (Telefon) oder – ganz analog – bei einem gemeinsamen Spaziergang, z.B. an der Schwalm, zu nutzen. [Natürlich unter Wahrung des vorgeschriebenen Mindest-Abstandes von 1,5 Metern. Anmerkung meines inneren Angsthasen und Hypochonders].
Darüber hinaus ermöglicht mir dieses Kommunikationsmittel, meine „feinen Antennen“ digital auszufahren. Das bedeutet, ich bekomme ein – zumindest ungefähres – Gefühl davon, wie es meinem digitalen Gegenüber in diesem Moment geht. Dabei gleiche ich in meinem Kopf sein (digitales) Kommunikationsverhalten, welches er mir gegenüber für gewöhnlich zeigt, also gewissermaßen die Schnittmenge meiner Erfahrungen, seit ich mit ihm über Chatprogramme in Kontakt stehe, mit dem kurzfristig gezeigten Verhalten dieser Person ab. Daraus lassen sich für mich manchmal Tendenzen ableiten und das dauerhafte Abgleiten meines Kommunikationspartners in nicht zielführende, oder gar destruktive, Verhaltensmuster erspüren, welche letztendlich in den Beginn einer Krise führen können.
Essenziell ist es dabei für mich, mir permanent die Grenzen des benutzten Kommunikationskanals, in diesem Fall des Chats, vor Augen zu führen. Mir steht im Zweifel immer das Mittel der (persönlichen) Nachfrage offen, in welcher ich digital oder analog im Gespräch dann schnell gewahr werden kann, ob tatsächlich Grund zur Beunruhigung besteht.
Ich habe mich bisher so kennengelernt, dass meine psychischen Antennen eher zu fein eingestellt sind, d.h. mein seelischer Brandmelder bereits Alarm schlägt, obwohl das Kabel nur durch die Sonne etwas wärmer ist als gewöhnlich, um diese bildliche Analogie zu verwenden. Aber eine gewisse Überempfindsamkeit meiner psychischen Antennen [nicht Überempfindlichkeit! – Eat this, Trigger!, Anmerkung meines inneren Beschützers] nehme ich gerne in Kauf, denn zehn Fehlalarme sind wertvoller als ein tatsächlicher psychischer Brand, auf den ich erst zu spät aufmerksam werde.
Ebenso sollte ich mir darüber im klaren sein, ob eine (mögliche) Reaktion meines Gegenübers, zum Beispiel ein Stimmungstief, kurzfristig (Tage) und damit „normal“, im Sinne von „uns allen bekannt“ ist. Falls ja, besteht – für mich – erst einmal kein Grund zur Beunruhigung, weil unsere Recovery nicht eine Gerade, sondern eine wellenförmige Kurve ist. Ich finde in diesem Fall das Bild der DAX- oder einer vergleichbaren Schwankungskurve, als für mich prägnanten Vergleich.
Meine ich jedoch, ein mittel- oder gar langfristig ausgeprägtes Stimmungstief wahrzunehmen, gleiche ich meine Beobachtung und die daraus gewonnene Einschätzung im Rahmen einer Intervision mit Vertrauenspersonen ab. Im Prozess der klassischen Selbsthilfe „Vom-Ich-Wissen-Zum-Wir-Wissen“ können wir gemeinsam eine Krisenprävention oder -intervention bei dem Betroffenen einleiten.
Es ist für mich schwer fassbar, weil eher emotional als verbal formulierbar, aber während ich die eben geschilderten Prozesse erlebe, die ihren Ausgangspunkt in der „Guten-Morgen-Runde“ haben, werden meine psychischen „Antennen“ noch feiner justiert, sowie permanent „dem aktuellen Verhältnis von spezifischem Signal und Hintergrundrauschen angepasst“. So würde es jedenfalls mein innerer Biologe ausdrücken.
Gerade in der aktuellen Zeit, in der durch die geltende Kontaktsperre und die Schließung sozialer Begegnungsstätten, der für unsere Salutogenese so wichtige, persönliche und soziale Kontakt enorm erschwert wird, ist es für mich umso wichtiger, mit den Menschen, die mir etwas bedeuten, in Kontakt zu bleiben. Gerade weil sie – wie ich – Betroffene sind, für die Ängste, Isolation und Soziophobie keine kurzfristig lästigen Ärgernisse sind, sondern riskante Verhaltenstendenzen und Warnsignale für den Beginn einer Krise darstellen können.
Für viele von uns sind die regelmäßig stattfindenden Gruppentreffen so wichtig, wie die tägliche Nahrung. Schrumpft der Blickwinkel auf digitale Kanäle zusammen, ist es für den Einzelnen wie für die Gruppe schwerer, dann wird das aufgebaute Netz weitmaschiger, mitunter brüchiger.
Für mich bedeutet die „Guten Morgen“-Runde den ersten Sonnenstrahl, den ein neuer Tag in meine Seele scheinen lässt. Diesen gebe ich nur allzu gerne weiter.
Mit lieben Grüßen und fühlt Euch gedrückt,
Euer Schmusehamster (ak)
Ein Kommentar
Dat hasse jut jemacht Jung.