(K)ein gutes Gefühl
Ein wahres Trauerspiel von dem theatralisch-poetischen Mausebär (a.k.a. Thorsten Dürholt).
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Heinrich Heine – Die Loreley
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Angeregt vom Polarbär, gab ich mich vorhin den Klängen von guter Musik hin.
Aufgrund seines Textes hatte ich einen Ohrwurm im Gehörgang sitzen. Dieser Ohrwurm stammt aus der Feder meiner absoluten Lieblingsband „Black Sabbath“.
Es ist die wunderschöne Rockballade „Changes“.
Ein Song, den ich lange nicht mehr gehört habe. Gleich fiel mir auch auf, warum – ich achtete auf den Text.
Es geht um eine verlorene Liebe und die ewige Traurigkeit, die darin liegt. Und jetzt nagt das Thema „Trauer“ an meiner zarten Seele.
Grund genug darüber zu schreiben.
Während meiner Ausbildung als Erzieher habe ich etwas zum Thema „Trauerarbeit“ gelernt. Der genaue Themenkomplex hieß: „Mit Kindern über den Tod reden“ und war Bestandteil des verhassten Faches „Religionspädagogik“.
Ich hielt mich danach für äußerst kompetent.
Trotzdem hat mich die Erfahrung in den letzten Jahren gelehrt, dass ich so gut wie nichts darüber weiß. Mittlerweile habe ich Trauer als etwas sehr komplexes erlebt. Es gibt so viele Formen.
Das Einzige, was ich kann, ist ein wenig über mich sprechen.
Das ist keine Anleitung zum Umgang mit der Trauer im Allgemeinen.
Dazu habe ich zu viele Umwege im Leben gemacht.
Heute reflektiere ich, was ich gelernt habe…
Um den Anfang zu würdigen, starte ich am Anfang.
Vorweg gesagt, meine Familie hat einen maximal schlechten Umgang mit Trauer – im Prinzip gar keinen.
Bei Trauerfällen gehen wir in den Funktionsmodus und erledigen, was getan werden muss.
Zwar wurde ich nie zu diesem Umgang ermutigt, aber als Kind lernt man halt doch am Modell.
Weil meine Mutter nicht mit Trauer umgehen konnte, war ich nicht in der Lage, ihr meine Trauer anzuvertrauen.
Und auch keiner anderen Bezugsperson – wahrscheinlich, weil ich keine hatte.
Tränen waren mir peinlich, weil ich ja ein Junge war. Ich hatte auch kein positives Rollenvorbild – weder in Bezug auf mein männliches Verhalten, noch für den adäquaten Umgang mit Trauer.
Letztens erfuhr ich im Gespräch mit meiner Mutter ganz beiläufig, dass ich als kleiner Knirps wohl ein starkes Papa-Kind war.
Ich kann das nicht bestätigen, da ich mich nicht an meinen Vater erinnere.
Als ich in den Kindergarten kam, hatte sich meine Mutter bereits von meinem Erzeuger getrennt. Ich weiß nicht, ob ich damals zum ersten mal getrauert habe.
Ich kann meinen frühkindlichen Knacks beim besten Willen nicht einschätzen. Im Unterschied zu den meisten anderen Kindern, war ich schon seit Anfang meiner eigenen dokumentierten Zeitrechnung seltsam anders.
Das erste Mal. Ich wurde konkret mit dem Thema Verlust und Trauer konfrontiert beim Tod meiner Großmutter.
Das Verhältnis zu meiner Großmutter war sehr eng.
Da meine Mutter berufstätig war, wurde ich oft von meiner Großmutter betreut. Zwei starke Frauen in meinem Leben, beide alleinerziehende Frauen, ohne Mann und ich in der Mitte.
Sigmund Freud hätten seine Freude an meiner Analyse.
Beide waren nicht sehr emotional, bei uns wurde nicht über Gefühle geredet.
Nicht auf aggressive Art oder tabuisiert – es geschah einfach nicht.
Als meine Großmutter starb, war ich so elf oder zwölf Jahre alt.
Ich erinnere mich, dass meine Großmutter im Krankenhaus lag. Sie hatte Leukämie. Mein Onkel war gekommen, um sie zu besuchen. Ich hatte ein ungutes Gefühl.
Ich bat meine Mutter, mich von der Schule zu entschuldigen, weil ich mit ins Krankenhaus wollte. Meine Mutter verbot es mir so streng wie sie konnte, gab mir aber keine Erklärung.
Unzufrieden besuchte ich die Schule.
Am spätem Nachmittag, als ich wieder zuhause war, gingen wir zusammen essen, meine Mutter, mein Onkel und ich. Beim Hauptgericht bekam ich zu meiner Pizza die Nachricht serviert, dass meine Oma verstorben war.
Alle drei waren wir ratlos, was wir mit dem Gefühl anfangen sollten. Es wurde gegessen und nicht viel gesagt.
Es gab eine Beerdigung und ich bekam ein teures Geschenk von meiner reichen Großtante, die extra zur Beerdigung ihrer Schwester aus den Vereinigten Staaten angereist war.
Weil ich so brav und tapfer war.
Meine Mutter versuchte mir zu vermitteln, dass es in Ordnung wäre, wenn ich bei der Trauerfeier weinen würde.
Ich hatte ein paar Tränen – aber eher aufgrund der emotional aufgeladenen Situation.
Lange habe ich mit meiner Mutter über diesen Tag nicht geredet. Ich ging am nächstem Tag zur Tagesordnung über. Es war etwas kaputt gegangen, was ich nicht benennen konnte.
Seitdem fühlte ich mich innerlich tot.
Jahrelang kam Trauer in meinem Leben nicht vor, dann wurde ich in die schwarze Szene verstrickt.
Dynamisch landete ich von Heavy Metal bei Deathmetal, mit einem Umweg über Blackmetal, dann bei der Gothic-Musik.
Ich zelebrierte meine innere Leere in Tateinheit mit meinem Weltschmerz.
Ich verband meinen Hang zum theatralisch-poetischen mit meinem Drang zur Provokation.
Stückweise erprobte ich mich in den dunklen Gefilden, komplett mit Ritzen, leichten Drogen, Okkultismus und Ähnlichem. Oft lag ich in meinem Zimmer und dröhnte mich mit melancholischer Musik zu, während ich Bücher las, die die meisten Jugendlichen in meinem Alter nicht mal verstanden.
Schwarz war meine Farbe.
Trauer wurde mit Triumph verbunden.
Leiden mit Sinnlichkeit.
Obwohl es schrecklich klingt, vermisse ich diese Zeiten.
Meine Angststörung wurde von einem schwarzen Nichts eingehüllt. Ich spielte mit Tod und Suizid und war stolz drauf, dem ganzen emotionslos zu begegnen.
Interessanterweise lernte ich in dieser Lebensphase meine Frau kennen.
Wir mischten Depression, Drogen, Sex und Kreativität in eine gemeinsame Bowleschüssel und tranken gierig daraus.
Dann passierte es schleichend. Ich wurde „erwachsen“.
Die Leere in mir wurde mit Problemen, Sorgen und Nöten gefüllt und aus dem dunklem Engel wurde ein fetter gerupfter Bärenvogel.
Lethargie war meine Antwort auf alles.
Lethargisch zog ich mich von der Welt zurück und versank in dunklem Brüten.
Meine Mutter verliebte sich und heiratete.
Ich freute mich über meine neue Familie, nicht für mich, sondern für meine Mutter.
Als ich langsam begann, aufzusteigen und meinen Weg zu finden, passierte das, was jedem Menschen in einem gewissen Alter passierte. Verwandte und Bekannte sterben.
Den Anfang machte mein Schwiegervater – ein netter Kerl. Ich weiß bis heute nicht, ob ich ihn vermisse – ich kannte ihn nur oberflächlich. Also beschränkte ich mich darauf, meine Frau zu trösten.
Dann starb mein Stiefvater. Eine wunderschöne Beerdigung.
Ich wollte meiner Mutter beistehen. Wieder absoluter Funktionsmodus, obwohl ich den Kerl mochte.
Die Nächsten waren einer von meinen Stiefbrüdern und dann – einige Jahre später – auch seine Frau (meine Schwägerin).
Die Familie war wieder kleiner geworden.
Auch hier ging ich nicht mit der Trauer in mir um, sondern tat, was zu tun war. Es kam mir nicht falsch vor, ich kannte nichts anderes.
Hart traf mich der Schlaganfall meiner Frau. Kein Todesfall – aber fast.
Mehrere Wochen schwebte sie zwischen Leben und Tod – mehrere Wochen funktionierte ich einfach.
Ich schlief so gut wie nicht, packte unsere Besitztümer für den geplanten Umzug, regelte Dinge. Ich kommunizierte vernünftig mit Ärzten, Verwandten, Jobcenter, Gerichten und doch war ich nicht dabei. Ich war weg.
Es sollte fast ein halbes Jahr und liebevolle Betreuung benötigen, bis ich wieder da war.
Komischerweise bemerkte keiner meine Abwesenheit.
Aber wie auch, die eine Person, die mich kannte und mich durchschaut hätte, war ja nicht wirklich anwesend.
Früher war ich in Trauerfällen immer stark für andere, wie auch neulich beim Tod meines Onkels.
Das bin ich gerne. Es macht mir nichts aus.
Ich trauere nicht wirklich – ich verstecke mich in dem dunklem Loch in meinem Herzen und überlasse den geübten Spielern aus meinem inneren Team das Feld.
Es ist manchmal sogar für mich krass, wie stark ich mich abgrenzen kann – nein, wie stark ich mich abgrenze!
Das ist keine aktive Fähigkeit, das ist etwas, was mit mir passiert. Das Leid der Welt perlt an mir ab.
Manchmal glaube ich, dass in mir eine komische Kombination ruht. Ich spüre Leid und Schmerz – ich kann diese Gefühle übernehmen, wie ich eigentlich jede Perspektive annehmen kann. Trotzdem gibt es da diese Taubheit in mir, die mich funktionieren lässt, aber nicht erlaubt, dass ich wirklich etwas spüre.
Und dann gibt es da die einzige große Ausnahme.
Seitdem ich um das Leben meiner Frau gefürchtet habe, hat sich ein Teil von mir tief in die dunkle Höhle zurückgezogen – tief in dem schwarzen Wald meiner Gefühle verborgen.
Brav hat dieser empfindsame Teil von mir dort Winterschlaf gehalten, während ich Dinge erledigen musste.
Seit einiger Zeit kommt dieser Teil hin und wieder heraus und prüft die aktuelle Lage.
Es ändert sich aber nichts.
Jedes Mal zieht sich dieses Stück von meinem Ich wieder zurück in die Höhle, wo es nicht gestört und auch nicht belästigt wird. Und jedes Mal nimmt es ein paar Kleinigkeiten mit, um sich die Höhle gemütlicher einzurichten.
Irgendwann wird es nicht mehr hervorkommen. Es wird in der Höhle bleiben und dort in Melancholie, im selbst geschaffenen Käfig, verenden.
Vielleicht werde ich diesen Tod spüren.
Vielleicht sogar traurig sein.
Bestimmt gleite ich aber in den Funktionsmodus und werde nach außen weiterhin der gute alte Mausebär sein.
Das Fazit ist, auch wenn ich pragmatisch und realistisch bleiben kann, verstehe ich auf gewisse Weise Trauer und Verlust. Diese beiden holden Schwestern haben mich schon oft als ihren willfährigen Geliebten auserkoren.
Und das ist der wahrscheinlich einzige Punkt meiner Sexualität, über den ich nicht offen reden kann.
Ich brauche in dem Bezug keine Hilfe oder Mitleid, sondern nur ein paar spezielle Zeiten, wo ich meine Musik höre und im Angedenken alter guter Tage, allein für mich, im Selbstmitleid bade.
Manchmal fragen mich Leute, wie ich es mit den ganzen Leuten vom Pflegedienst in der Wohnung aushalte. Wie ich mit der 24-Stunden-Belastung klarkomme. Meistens ist die knappe Antwort: „Man gewöhnt sich an die Situation“.
Die Wahrheit ist, seit dem meine Frau in ihrem Zustand ist und der Gedanke, dass sie nie wieder die selbe Person wie früher wird, immer häufiger zur Gewissheit wird, fühle ich mich wieder so einsam wie in meiner Kindheit und Teilen meiner Jugend. Nur diesmal ohne die Hoffnung, dass sich was ändert.
Ich denke, einige die das lesen, werden sich aufgefordert fühlen, mich zu kommentieren. Vielleicht wollen sie mit Trost oder Aufmunterung an mich herantreten. Dieses ist aber einer der wenigen Male, dass ich Euch bitte nicht zu kommentieren. Ich bitte Euch, nicht zu reagieren. Nehmt es als das was es ist – ein Blick in mein Inneres.
Ich werde mich jetzt wieder in einen besseren Gemütszustand versetzten. Das wilde Kind in meinen Gefühlen kehrt gesättigt zurück in seine Höhle und ich danke meinen Freunden, dass ich hier einen Platz habe, um diese Gedanken durch verbalen Aderlass aus meinen Körper zu extrahieren.
Und jetzt gehe ich in die Küche und grille mir Würstchen auf dem Tischgrill, sehe mir einen guten Film an und werde dann befreit schlafen gehen.
Euer – jetzt hungriger – Mausebär (a.k.a Thorsten Dürholt)