Zeit – mein inneres Musical-Video

musikalisch angelehnte Bewältigungsstrategie des Schmusehamsters

Vorbemerkung:

Es gibt einen recht prominenten Anteil meiner seelischen WG, welcher einen Hang zur musikalisch phantasievollen Deutung von Liedern hat, stellenweise bis hin zu schaurig-schönen Musical-Elementen mit Anleihen aus dem Bereich der Fabel. Lange habe ich dieses Element in mir mit der Außenwelt nicht geteilt, weil ich es so schwierig finde, mein Gedankenkino in passende Worte und ganze Sätze zu bringen, die dann noch die emotionale Wucht von Bild und Ton und den anderen Sinneseindrücken haben, die in mir dann ablaufen. Hier lest Ihr Versuch Eins dieses translativen Ansatzes.

Sicherheitshinweis:

Die folgenden Zeilen entstammen dem Zusammenspiel meiner phantasievollen (andere würden vielleicht sagen: morbid-kruden) Seele auf der Grundlage des Liedes „Zeit“ von Rammstein.
Ohne das Lied werden meine gedanklichen Bilder nicht verständlich. Ich verwende dessen Zitat daher als liebevolle Hommage eines bekennenden Fans und hoffe sehr, eventuelle juristische Verstrickungen hinsichtlich des Urheberrechts zu vermeiden. Mein inneres Känguru empfiehlt jenen kapitalgetriebenen Winkeladvokaten, sich ihre innerlich schon gespitzten Bleistifte dorthin zu schieben, wo die Sonne nie hinscheint. Schade, dass Kängurus nicht sprechen können. Achtung – Satire! Vielen Dank für Euer Verständnis.

Intro:

Satt und zufrieden liege ich an einem Wochenendtag im heimischen Sessel und döse einem Verdauungsnickerchen entgegen.

Parallel höre ich den instrumentalen Prolog des Liedes einsetzen, untermalt von spärischen Chören, graduell lauter werden.

Das Telefon klingelt. Meine beste Freundin: „Unser Pferd steht nicht auf.“ Der Alarm in ihrer Stimme macht mich schlagartig hellwach. Unser Pferd ist mit über 30 (auf menschliche Maßstäbe umgerechnet über 90) Jahren der Methusalem der Weide-Herde, komplett mit allen dem natürlichen Alterungsprozess geschuldeten, auch uns Menschen nicht unbekannten Wehwehchen. „Was ist passiert?“ stelle ich die erste Frage, „Was hast Du bisher versucht?“ die zweite und schließlich die dritte: „Soll ich kommen?“. Kurz kommt die Antwort, knapp und irgendwie mit einer endgültigen angstbelegten Kälte: „Ja.“

Erste Strophe:

Manches sollte, manches nicht.
Wir sehen, doch sind wir blind.
Wir werfen Schatten ohne Licht.

In Hut und Mantel gehüllt, stürze ich die Treppe zu meiner Wohnung, die ich gerade verlassen habe, wieder hinauf, um Pantoffeln in Schuhe auszutauschen.

Zweite Strophe:

Nach uns wird es vorher geben.
Aus der Jugend wird schon Not.
Wir sterben weiter, bis wir leben.
Sterben lebend in den Tod.

Am Steuer meines Autos, auf dem Weg durch wind- und regenzerzauste Dunkelheit – das letzte Aufbäumen quasi warmer Witterung verlässt unsere Breiten mit Blitz und Donner – treiben meine Gedanken umeinander. Ich sehe das Jungpferd, welches seit kurzem in unserer Obhut ist. Daneben unser altes Pony im Wandel der Jahre und Jahrzehnte – stets das schönste und beste von ‚die ganze weite Welt‘, lange stattlich und stark, dann zunehmend von Alter und chronischer Krankheit gebeugt und geschwächt.
Das ein oder andere Polaroidfoto meiner Eltern mischt sich unter meinen seelischen Zugwind – Wann sind SIE eigentlich so alt geworden, dass nun wir Kinder die rüstigen Kümmerer sind?

Dritte Strophe:

Dem Ende treiben wir entgegen.
Keine Rast, nur Vorwärtsstreben.
Am Ufer winkt Unendlichkeit.
Gefangen so im Fluss der ZEIT.

Das Wetter an diesem Abend ist fürwahr filmreif. Böen treiben wogend Regen meinem Auto entgegen. Ich umfasse das Lenkrad fester als nötig. „Ist heute“ frage ich mich, „der Tag des Abschieds gekommen?“ Es wäre nicht überraschend in der Schlussphase eines langen und erfüllten Lebens auf vier Hufen.
Der gesunde Erwachsene in mir betritt meine innere Szenerie. Wie so oft mit der Stimme Leonessas fragt er bzw. sie mich bzw. den halb ängstlichen, halb gefassten Teil in mir: „Was wäre das Schlimmste, was Du vorfinden könntest?“ „Meinen toten vierbeinigen Freund!“ konstatiere ich und merke, wie ich ein Stück weit ruhiger werde ob der Tatsache, dass ich mich mit fortschreitendem Alter meines Gefährten mit diesem endgültigen Gedanken schon vertraut gemacht, gewissermaßen in ihn hineingefühlt habe wie eine Hand in eine Socke.
„Wäre es schlimmer, ihn bereits verstorben vorzufinden oder noch lebend und die finale Entscheidung zum assistierten Tod der herbeigerufenen Veterinärin mit-fällen und mitteilen zu müssen?“
An diesem Punkt will mein innerer Wut-Zerberus meinem gesunden Erwachsenen im Stile des tasmanischen Teufels mitteilen, wo er oder sie sich diese Frage hinstecken soll. Der gesunden Erwachsenen, immer noch gespielt von Leonessa, gelingt es nur durch das Heben eines Fingers ohne Blickkontakt, aus dem geifernden Raubtier ein süßes gelbes flauschiges Hühnerküken zu machen.
„Die Entscheidung mittreffen zu müssen.“ würge ich meine Antwort hervor und ein Teil in mir verachtet mich mit der damit einhergehenden Feigheit.
Ich trete aufs Gaspedal und hoffe nun, nicht zu spät zu kommen.
„Lass es nicht so BILLIG enden!“ schleudere ich dem Himmel entgegen, mein Auftakt zu einem fortgesetzten Gebetsmarathon. „Der Kölner betet, wenns eng wird.“ versetzt mein innerer Zyniker und bekommt eine wohldosierte linke Gerade meiner zurückverwandelten inneren Wut ab.

Refrain:

ZEIT
Bitte bleib stehn, bleib stehn.
ZEIT
Das soll immer so weiter gehn.

Ich rolle durch den Autobahntunnel, knapp unter der für die Blitzer auslösenden Maximalgeschwindigkeit und bin froh, dass ein gelassener Verkehrsteilnehmer in mir nicht jeglich Maß und Mitte im wahrsten Sinne des Wortes fahren lässt. Der Slapstickregisseur in mir spielt die Erinnerung an mein Abendessen, Kohlgemüse ‚bürgerlich‘, ab und der Beginn eines vielleicht ein klitzekleines bißchen hysterischen Lachanfalls gurgelt durch meine Kehle.

Vierte Strophe:

Warmer Körper ist bald kalt.
Zukunft kann man nicht beschwören.
Duldet keinen Aufenthalt.
Erschaffen und sogleich zerstören
.

Schnitt zur Weide. Im irrlichternden Schein einer Kopflampe und strömendem Regen steht meine beste Freundin neben unserem auf der Seite liegenden alten Pony, das junge nahebei. Wiederholt und zunehmend verzweifelt motiviert sie das Tier, sich aufzurichten. Dieses will der Aufforderung nachkommen, doch die Kraft in den Hinterbeinen scheint nicht ausreichend oder der aufgeweichte Grund zu rutschig. Mit jedem Versuch scheinen Ross und Reiterin gleichermaßen die Kräfte zu schwinden. Regentropfen vermischen sich mit Tränen.

Fünfte Strophe:

Ich liege hier in Deinen Armen.
Ach, könnt‘ es doch für immer sein.
Doch die Zeit kennt kein Erbarmen.
Schon ist der Moment vorbei.

Kaleidoskopartig purzeln in meinem Kopf die Erinnerungsbilder, durchmischt mit den anderen Sinneseindrücken, gnadenlos realistisch wie das kalte weiße Licht auf dem Abort einer Studentendisco.
Gleichzeitig fühle ich den warmen Atem aus den Nüstern des Ponys, streichele sein zotteliges Fell, spüre die Kraft seiner Bewegungen und bin zurückversetzt in jene Lebensperiode, wo Frauchen und Herrchen noch ein Paar waren, empfinde uns eng umschlungen im Akt der Liebe, erinnere meinen zu diesen Gelegenheiten selbst herbeigesehnten Wunsch nach der Ewigkeit dieses Moments. Meine Sicht verschwimmt und ich blinzele Tränen weg.

Refrain:

ZEIT, bitte bleib stehn, bleib stehn.
ZEIT, es soll immer so weiter gehn.
ZEIT, es ist so schön, so schön.
Ein jeder kennt den perfekten Moment.

Ich habe die Autobahnausfahrt erreicht, lege die letzten Kilometer über dunkle Landstraßen zurück, auf denen durch den Sturm abgerissene Zweige liegen und große Wasserlachen schimmern.
Schnitt zur Weide – die Stallbesitzerin ist angekommen, eine starke Außentaschenlampe dabei. Gemeinsam beginnen sie und meine beste Freundin mit weiteren Versuchen, unserem immer noch liegenden Pferd wieder auf die Beine zu helfen.

Sechste Strophe:

Ich imaginiere.
Unsichtbar für meine beste Freundin und die Stallbesitzerin ist Gevatter Tod auf seinem Sensenpferd an der Weide eingetroffen. Seelenruhig steigt die schlanke Gestalt in schwarzer Kutte ab und geht, sein dunkles Ross am Zügel führend, auf die Szenerie rund um unser Pony zu. Nur dieses kann den schwarzen Reiter und seinen behuften Gefährten wahrnehmen. Sich Schritt um Schritt nähernd, beginnt Gevatter Tod, mit leiser Stimme zu singen.

Wenn unsre Zeit gekommen ist.
Dann ist es Zeit, zu gehn.
Aufhören, wenns am schönsten ist.
Die Uhren bleiben stehn.

In den Augen des liegenden Pferdes scheint sich die von mir gerne benutzte Vorstellung der himmlischen Wiese zu materialisieren, auf deren grüner Weite jene Herdenfreunde meines Ponys, die ihm voraus gegangen sind, ihn freundlich zu erwarten scheinen.
Aus einer seiner Satteltaschen holt Gevatter Tod eine Sanduhr, hält sie prüfend vor sein knochenbleiches Gesicht, die letzten Körner feinen Sandes geduldig fallen sehend.

Siebte Strophe:

So perfekt ist der Moment.
Doch weiter läuft die Zeit.
Augenblick, verweile doch.
Ich bin noch nicht bereit.

Ist es der plötzliche kalte und zeitlose Hauch der Unendlichkeit, den die Stallbesitzerin nun spürt, welcher sie auf einer tiefen Ebene des Unterbewusstseins die Anwesenheit des Todes wahrnehmen lässt?
Greift ein Engel auf weißem, geflügelten Ross ein?
Es bleibt unbekannt.

Gevatter Tod erstarrt, das Sensenpferd schnobert nervös. Der rieselnde Sand ist stecken geblieben. Mehrere Körner des pulvrigen Mediums scheinen zusammen gebacken zu sein. Mit knochigem Finger klopft er leicht an den Kristall der Hülle seines Zeitmessers, ohne Erfolg.
Ungehalten über die Verzögerung und im Angesicht, unverrichteter Geschäfte wieder heimkehren zu müssen, schüttelt Gevatter Tod seine Sanduhr, erreicht dadurch aber nur, dass etwas abgelaufener Sand wieder nach oben fließt.

Im Hintergrund und mit dem letzten Mute der Verzweiflung, sammelt mein Pferd seine letzten Kräfte, motiviert durch gebrüllte Kommandos, eine Lawine unchristlicher Flüche als Lösungsmittel und den Katalysator greller Blendung der Pferdeaugen durch die Taschenlampe.
Irgendwie reicht all das, um den entscheidenden Millimeter des Schwerpunktes zu verlagern und meinem Pferd, auf die Beine zu kommen.

Gevatter Tod blickt auf und sieht, dass seine Chance vorbei ist. Schulterzuckend verstaut er die kostbare Sanduhr erneut in der Satteltasche, schwingt sich behende auf sein Sensenpferd und verschwindet in den Schatten des nun nachlassenden Gewitters.

In diesem Moment biege ich in den asphaltierten Feldweg zur Weide ein.

Finaler Refrain:

ZEIT, bitte bleib stehen, bleib stehen.
ZEIT, es soll immer so weiter gehen.
Zeit, es ist so schön, so schön.
Ein jeder kennt den perfekten Moment.

Ich weiß noch, wie in dem Moment, als ich auf das Weidetor zugefahren bin, mein Herz vor alles verzehrender Dankbarkeit einen extra Schlag machte. Da stand, im nachlassenden Regen, ER, mein Pony und daneben, müde, matschbespritzt und glücklich im patschnassen Regenmantel, meine beste Freundin und die Stallbesitzerin.
Die mittlerweile ebenfalls eingetroffene und notfallmäßig verständigte Tierärztin teilte uns mit, dass bis auf das fortgeschrittene Alter sowie Stadium einer chronischen Erkrankung nichts Ungewöhnliches festzustellen sei. Alle Systeme normal, gesund, keine Schmerzen. „Heute nacht“, habe ich ihre Stimme noch im Ohr, „passiert nichts mehr.“ Ob mir geglaubt wird, oder nicht, an dieser Stelle donnerte es laut. Gevatter Tod war auf einen späteren Zeitpunkt vertagt.

Outro:

Unter leiser werdenden E-Gitarren-Klängen und synchron anschwellenden sphärischen Chören geht meine musikalische Reise zu Ende.

Epilog:

Mittlerweile sind schon wieder etliche Wochen ins Land gegangen seit dem Zeitpunkt der Erlebnisse, die dieser Geschichte zugrunde liegen.
Unser Pony hat sich erholt, ein paar Kilos draufgepackt und erfreut sich während des gerade herrschenden Wetters von nahe fünf Grad und Nieselregen, seinem für Rasse und Charakter geltenden Optimum, wieder so mancher Lust auf Schabernack, ist gut zu Fuß und wieder das liebe Onkel-Pferd für ein Reitkind.

Mir ist klar, dass an bewusstem Abend das Unvermeidliche nur vertagt wurde, wie es für Huftiere unserer Stallgemeinschaft nicht unüblich ist. So gibt es zwei noch ältere Liebhaberstücke bei uns, die ob ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr mit auf die Sommerweide gehen und unser alter Herdenchef hat es geschafft, das Sensenpferd und dessen Reiter gleich dreimal zu vertrösten.

Doch ich glaube, dass jene Episode für mich sehr wichtig war. Sie hat mich eindringlich mit der Nase darauf gestoßen, dass ich mich für den Abschied von meinem Gefährten rüste. Es kommt so oder so weder überraschend, noch kann ich irgendwem oder -etwas dafür böse sein. Einerseits bringe ich mich seither etwas mehr bei unserem neuen Jungpferd ein. Andererseits bin ich froh, eine so patente wie empathische Tierärztin zu haben, die uns den guten Rat mit auf den Weg gegeben hat, uns klarzumachen, dass wir nicht wissen, wann unser aller letzter Tag gekommen ist. Aber nach einem langen und erfüllten Leben kann es jederzeit soweit sein oder auch erst nach Monaten oder Jahren. Wichtig ist, das emotionale Loslassen zuzulassen und jeden Tag mit Pferd als Geschenk zu nehmen, denn unser Gefährte hat es nicht verdient, wenn wir mit einem Buckel voller Angst und Sorgen zu ihm kommen.

Ich bin mir bewusst, dass der Abschied hart wird und eine Zeit der gesunden Trauer nach sich ziehen wird. Aufgrund meines Netzwerks, vieler gleichgesinnter und mir wohlmeinender Menschen und der Gewissheit, dass das Leben im Stall weitergehen wird, wie es immer weitergegangen ist, fühle ich mich sicher. Dafür bin ich dankbar.

Ich weiß nicht, ob Ihr meiner musikalischen Phantasiereise, die mir ein großes Stück Erlebnisbewältigung ermöglicht (hat), folgen konntet. Auf jeden Fall fühle ich mich nun besser.

So long,

Euer Schmusehamster

Nachtrag

Wer die vorhergehenden Zeilen aufmerksam gelesen hat, dem mag das Bild der Sanduhr, welche Gevatter Tod, in seinem Einsatz unterbrochen, schüttelt. Lukas war eine allerletzte Gnadenfrist gegeben worden. Doch die wenigen Körner, welche im Stundenglas nach oben gerutscht waren, sollten nicht lange währen und die endgültig letzten sein.

Am Ende eines langen, glücklichen und gesunden Lebens ist mein treuer Begleiter am 25.12.22 vormittags von uns gegangen, mit 30,5 Pferdejahren, umgerechnet Anfang 90 Menschenjahren, läuft Lukas nun über die immergrüne Himmelswiese, umgeben von jenen getreuen Vierhufern, die ihm vorangegangen sind.

Das Leben im Stall geht für mich und mit mir weiter. Leben entsteht und Leben vergeht. Lukas‘ Besitzerin hat ein Jungpferd zum Ausbilden und ich einen weiteren rüstigen Jungrentner gefunden, der sich über altersgerechte Bespaßung freut.

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