Speaker’s Corner: Alternativlos Systemrelevant

Ein kritischer Kommentar von Alexander Kunze über zwei derzeit sehr beliebte Schlagworte.

Alternativlos Systemrelevant ?

Die Schlagworte „alternativlos“ und „systemrelevant“ sind gerade in aller Munde. Ihren Ursprung und bisherigen Höhepunkt hatten beide Wortschöpfungen in der Zeit der letzten weltweiten Wirtschaftskrise 2008-10.

Als „alternativlos“, d.h. ohne andere Möglichkeit, wurde damals die staatliche Rettung verschiedener Finanzdienstleistungsunternehmen bezeichnet. Diese wurden für den gesamtwirtschaftlichen Zusammenhalt von Ländern, Staaten und Staatenverbunden als „systemrelevant“, d.h. unersetzlich, angesehen. Die Schöpfung, bzw. der Gebrauch, beider Begriffe in der deutschen Sprache schien angesichts der größten erfahrenen wirtschaftlichen Rezession seit 1945, nachvollziehbar zu sein.

In den darauffolgenden Jahren verwässerten beide Begriffe durch inflationären Gebrauch und sorgten sowohl bei jenen, denen sie über die Lippen kamen, als auch jenen, die sie hören oder lesen mussten, für Stirnrunzeln und Naserümpfen.

Im Zuge der durch das Coronavirus, bzw. die ausgelöste Erkrankung Covid-19, entstandenen Krise erleben die Worte „alternativlos“, insbesondere aber „systemrelevant“ eine Renaissance, die mich nachdenklich macht.

Spätestens seitdem die Krise Europa vollständig erreicht hat und nationale Gesundheitssysteme überfordert, werden nahezu alle von Experten aus dem medizinischen, politischen oder bürgerlichen Lager kommenden Vorschläge über das aktuelle Vorgehen als „alternativlos“ bezeichnet.

Doch ist die mittlerweile weltweit gewählte Methode der Hygieneregelungen und Quarantänebestimmungen wirklich die einzig wahre?
Sind die getroffenen Vorkehrungen hinsichtlich der Verteilung von Lebensmitteln und medizinischem Gerät oder die nach dem Gießkannenprinzip ausgeschütteten Milliarden an den Finanzsektor tatsächlich anders nicht denkbar?
Da ich weder über einen universellen Überblick verfüge, noch in die Materie eingearbeitet bin und schon gar nicht „an vorderster Front“ entscheiden muss, welche Patienten behandelt werden dürfen und welche nicht, kann ich diese Situationen nicht abschließend beurteilen.

Ausschließlichkeit?

Mich stört jedoch die Ausschließlichkeit, mit der in diesen Fällen argumentiert wird. Ich finde es falsch, dass sich, zumindest für mich erfahrbar, keine kontroverse Debatte über mögliche Vorgehensweisen entspinnt, sondern im Gegenteil jede abweichende Meinung als Unsinn abgetan wird. Mir drängt sich in diesem Fall das Bild einer kopflos flüchtenden Herde auf, bei der im tumultartigen Gedränge am Ende mehr Individuen sterben als durch den Jäger.

Aus dem Wort „alternativlos“ höre ich außerdem eine autoritäre, fast diktatorische Schärfe und Endgültigkeit heraus, im Sinne von: „Entweder bist Du für mich oder gegen mich!“.
Zwar haben schon die alten Römer in Krisenzeiten von der Führung mit einer Doppelspitze (Konsuln, lat. consules) zugunsten eines Diktators abgesehen, aber nur für eine vorher festgelegte kurze Periode von maximal sechs Monaten. Die bisher von verschiedenen weltweiten Regierungsformen bekannt gewordenen Interventionspläne oder gesetzlichen Anpassungen sind jedoch in den wenigsten Fällen mit einer klaren kurzfristigen Gültigkeit versehen worden. Deutschland betreffend, habe ich zwar eine recht hohe Hoffnung, dass wir relativ schnell und reibungslos wieder zum Status Quo übergehen werden.
Aber in wie vielen anderen Staaten werden vollzogene Änderungen möglicherweise nicht mehr vollständig zurückgenommen?
Wie hoch werden die gesellschaftlichen Kollateralschäden in punkto Freiheit, Demokratie und Menschenwürde sein?

Was ist denn jetzt „systemrelevant“?

Mit dem Begriff „systemrelevant“ werden momentan bestimmte Tätigkeiten und Berufe ins Schlaglicht gerückt, welche sich, vielleicht mit Ausnahme der Ärzte, sonst über wenig Beachtung oder gar Hochachtung erfreuen können: Pfleger, Apotheker, Betreuungskräfte, Supermarktangestellte, LKW-Fahrer, Entsorgungsbetriebe, ÖPNV, Paketboten, Putzkräfte.
Das ist gut und richtig meiner Meinung nach, denn es sind jene, die ganz unmittelbar einen Staat oder besser eine Gesellschaft am Laufen halten. Die von mir genannten Berufsgruppen mögen gerne plakativ für „systemrelevante“ Tätigkeiten stehen.
Ich hoffe und bete darum, dass sobald die Krise überwunden wurde, man sich dieser Gruppen von Menschen erinnert!
Ihnen sollten, neben der fällig gewordenen sozialen Anerkennung, endlich auch finanzielle Vorteile gewährt werden, in dem Sinne, dass eine Mutter oder ein Vater von seiner so wichtigen Arbeit seine Familie ernähren kann. Ohne auf Zweitjob und Überstunden angewiesen zu sein!
Ist es weltfremd und naiv von mir, darauf zu hoffen?
Darf ich das fordern?

Nicht systemrelevant?

Abschließend möchte ich den Blick auf die vielen weiteren Menschen in Deutschland werfen und fragen:
Wenn die eben von mir genannten Berufsgruppen „systemrelevant“ sind, bedeutet das im Umkehrschluss, dass alle anderen Berufsgruppen diese Bezeichnung nicht verdienen, gar überflüssig sind?
Was ist außerdem mit den vielen Menschen, die keinem Beruf nachgehen, weil sie zu alt oder zu jung, zu krank oder anderweitig daran gehindert sind?
Will man unsere Gesellschaft gar der Doktrin „nützlich“ versus „unnütz“ oder „wert“ gegen „unwert“ unterwerfen?
Spiele ich mit diesen Fragen ein wenig in meinem Kopf herum, kristallisiert sich schnell heraus, dass natürlich enorm viele weitere Tätigkeiten und Berufsgruppen wichtige Funktionen in zweiter oder nachgeordneter Reihe ausüben.
Es sind nicht zuletzt gerade die abgegebenen Beiträge eines großen Teils der Arbeitnehmer, welche eine gewisse Form von Gesundheits- und Sozialsystemen erst möglich machen! Die es außerdem gewähren, dass der sehr junge und sehr alte Anteil einer Gesellschaft noch nicht bzw. nicht mehr arbeiten muss, um seine nächste Mahlzeit zu erhalten. Ganz so einfach scheint es mir also nicht zu sein.

Sinnsuche

Erinnere ich mich an mein früheres Berufsleben zurück, kann ich vor allem eine gewisse Leere in mir oder Sinnsuche bei vielen der von mir ausgeführten Tätigkeiten nicht verleugnen. Als mein Interesse an meiner Forschungsarbeit erlosch, weil ich merkte, dass weniger meine Ergebnisse, als eher meine Kontakte für deren Erfolg und die Einwerbung finanzieller Mittel erforderlich waren, blieb nichts in mir zurück als die allmorgendliche Frage nach dem „warum“ – zugespitzt in der typischen Bewerbungsphrase „Was treibt Sie an?“.
Sicherlich musste ich auf eine gewisse Weise zugeben, dass es das Geld war, welches ich verdienen musste, um Obdach und Nahrung zu bezahlen.
Aber konnte das alles sein?
Konnte es nicht, wie ich Ende 2013 leidvoll erfahren durfte.

Wenn ich heute gefragt werde, woran ich festmache, dass es mir heute weitgehend „gut“ geht, ich großenteils „glücklich“ bin, dann fällt es mir schwer, dies in Worte zu fassen.
Aber im wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass ich das von mir Geleistete als „sinnhaft“ begreife und diese Tätigkeiten mich glücklich machen. Sei es die Stallarbeit mit und für die Pferde, sei es die konzeptionelle Arbeit der Genesungsbegleitung im Team der „Erfahrungsexperten am Niederrhein“ oder sei es deren ganz praktische Ausübung, d.h. die Arbeit an der Basis, am Menschen, von mir liebevoll als die „Graswurzel-Arbeit“ bezeichnet, wenn ich als Teilnehmer und Moderator Selbsthilfegruppen besuche.
Das bedeutet für mich persönlich „systemrelevant“ – und zwar alternativlos.

Bis dahin, bleibt gesund!

Euer Alex.

Ein Kommentar

  • Hallo lieber Alex.
    Als aller erstes möchte ich mal festhalten, das ich mich freue hier
    einen Beitrag von dir zu lesen.
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    In den darauffolgenden Jahren verwässerten beide Begriffe durch inflationären Gebrauch und sorgten sowohl bei jenen, denen sie über die Lippen kamen, als auch jenen, die sie hören oder lesen mussten, für Stirnrunzeln und Naserümpfen.
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    Bei mir Lösten sie, sofort, als ich sie zum ersten mal hörte, innerlich starken Widerstand aus.
    Alternativlos… Es gibt immer Alternativen, die frage ist nur ob man sie gehen will.

    Als Systemrelevant wurden damals doch nur Banken und Großindustrie betrachtet.
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    Im Zuge der durch das Coronavirus, bzw. die ausgelöste Erkrankung Covid-19, entstandenen Krise erleben die Worte „alternativlos“, insbesondere aber „systemrelevant“ eine Renaissance, die mich nachdenklich macht.
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    Mich ängstigt es mehr als das Virus.
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    Aus dem Wort „alternativlos“ höre ich außerdem eine autoritäre, fast diktatorische Schärfe und Endgültigkeit heraus, im Sinne von: „Entweder bist Du für mich oder gegen mich!“.
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    Und wage ja nicht zu denken.
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     Deutschland betreffend, habe ich zwar eine recht hohe Hoffnung, dass wir relativ schnell und reibungslos wieder zum Status Quo übergehen werden.
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    Ich habe die Hoffnung oder besser gesagt den Wunsch, das genau das nicht geschieht.
    In dieser schlimmen Zeit sollten die Menschen fest stellen worauf es wirklich an kommt. Sollten sehen das die Natur sich einen feuchten Kehricht um uns schert.
    Das sie jederzeit die Menschheit einfach so verschwinden lassen kann.
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    Ihnen sollten, neben der fällig gewordenen sozialen Anerkennung, endlich auch finanzielle Vorteile gewährt werden, in dem Sinne, dass eine Mutter oder ein Vater von seiner so wichtigen Arbeit seine Familie ernähren kann. Ohne auf Zweitjob und Überstunden angewiesen zu sein!
    Ist es weltfremd und naiv von mir, darauf zu hoffen?
    Darf ich das fordern?
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    Ich bin nicht der Meinung das dass Weltfremd ist.
    Ich bin nicht der Meinung das du das Fordern darfst, ich bin der Meinung jeder der sich dazu in der Lage sieht MUSS es Fordern.
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    Will man unsere Gesellschaft gar der Doktrin „nützlich“ versus „unnütz“ oder „wert“ gegen „unwert“ unterwerfen?
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    Macht man das nicht schon lange?

    Versucht es nur durch Augenwischerrische Maßnahmen wie nicht wirklich durchsetzbare Mietspiegel.
    Oder dadurch das es geduldet wird das Wohnungen als Ferienwohnungen Deklariert werden weil damit wesentlich mehr Geld verdient werden kann, und nebenbei auch noch der Mietspiegel angehoben wird, und, und,und…

    Zu verschleiern.
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    Sei es die Stallarbeit mit und für die Pferde, sei es die konzeptionelle Arbeit der Genesungsbegleitung im Team der „Erfahrungsexperten am Niederrhein“ oder sei es deren ganz praktische Ausübung, d.h. die Arbeit an der Basis, am Menschen, von mir liebevoll als die „Graswurzel-Arbeit“ bezeichnet, wenn ich als Teilnehmer und Moderator Selbsthilfegruppen besuche.
    Das bedeutet für mich persönlich „systemrelevant“ – und zwar alternativlos
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    Diesen Letzten Satz, kann ich nur Unterstreichen.

    Gandalf grüßt dich mit freundlichem Wohlwollen.

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