Was mir in der „Krise“ im Hier und Jetzt Halt gibt

Prolog

Meine wertgeschätzten Kollegen Administratoren von den „Erfahrungsexperten am Niederrhein“ haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass seit unserem ersten Beitrag auf dieser Internetseite bzgl. der erlassenen Kontaktsperre mittlerweile volle 40 Tage ins deutsche Land gegangen sind.

Dieser Wunsch und der daraus folgende Auftrag führten mich zu zwei Fragen:

Was löst dieses „Jubiläum“ in mir aus?

Und, nachdem der geneigte Leser das Datum der Veröffentlichung dieses Textes, sowie die an den Fingern [zulässig sind die eigenen und jene von Personen, die im selben Haushalt leben – Anmerkung meines inneren Kängurus] abgezählten Tage seit dem Erlass der Kontaktsperre miteinander verrechnet hat:

Warum sträube ich mich, punktgenau zum 40. Tag meinen Beitrag zu „liefern“, sondern ihn stattdessen verspätet einzureichen?

Kommt mit mir auf einen Parforce-Ritt durch meine Welt! Wetterfeste Kleidung und festes Schuhwerk nicht vergessen!

Was löst dieses „Jubiläum“ in mir aus?

Zunächst einmal habe ich das Gefühl, dass seit dem Erlass der Kontaktsperre wesentlich mehr Zeit als 40 Tage vergangen ist. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass sich die Zeitpanne de-ee-eee-ee-ehnt wie ein Kaugummi. Tage verschwimmen zu Wochen, Wochen zu Monaten, etc.

Meine Ungeduld steigt, endlich wieder zum Alltag zurückkehren zu dürfen, in mein – sicherlich romantisch-verklärtes – behagliches Nest meiner sonst üblichen Gewohnheiten.

Zwar habe ich noch im März angegeben, dass mein Leben an sich vor und nach der Kontaktsperre eigentlich nicht viel anders verlaufen ist. Aber natürlich sind die Veränderungen auch in meinem Alltag für mich nicht mehr zu leugnen und rütteln am Gebäude meiner Psyche, wie ich es im Rahmen meiner Recovery bis heute aufgebaut habe.

War ich bisher zum Beispiel ein Gelegenheits-Einkäufer, der mehrmals wöchentlich einen Supermarkt für jeweils kleine Einkäufe aufgesucht hat, plane ich nun langfristiger und bereite mich auf meinen Einkauf vor, wie auf eine Expedition in zwar nicht unbekanntes, jedoch gefährliches Terrain. Der erste, deutlich sichtbare Riss in meiner aus Gewohnheiten solide gemauerten Behausung, bahnte sich knirschend seinen Weg durch meine Psyche.
„Früher“ habe ich zum Beispiel beim Blick auf die aktuelle Auswahl der Waren erst entschieden, was ich kochen möchte und mich dabei von Lust, Laune und Kreativität leiten lassen. Diese kulturell domestizierte Form des „Jagens & Sammelns“ war die Ouvertüre zu meiner persönlichen Genusstherapie „Kochen & Essen“, gewissermaßen ein „Schlussstein“ meines psychischen Gebäudes.
Doch Einkaufen ist für mich in dieser Form kein Genuss mehr.

Leider ist durch die gegenwärtig ausgesprochene „Maskenpflicht“ in mir ein deutlicher Widerwille entstanden, persönlich Einkaufen zu gehen und so ertappe ich mich dabei, Methoden zu prüfen, mir die Lebensmittel nach Hause liefern zu lassen. Diesen Zustand, sollte ich mich schlussendlich dafür entscheiden, werde ich vielleicht so lange einhalten, bis die „Maskenpflicht“ wieder aufgehoben wird. Der Riss in meinem seelischen Haus wird nun breiter und der Putz beginnt zu bröckeln, doch – gottseidank – die Bude bleibt bewohnbar, denn immerhin ist mir das genussvolle Kochen und Essen geblieben.

Gehe ich alleine oder mit den Hunden spazieren, bin ich froh, dass ich mir diese wichtige Säule meines Alltags noch bewahren konnte und unverändert viel Wert darauf lege. Wie wichtig frische Luft und Sonnenschein für uns Betroffene sind, brauche ich an dieser Stelle nicht zu erklären! Ohne UV-Licht kein Vitamin-D, ohne Bewegung keine Glückshormone. Ich kann dies sicherlich als gute Fähigkeit zur Salutogenese bezeichnen. Die Statik meines psychischen Gebäudes ist okay, der Garten voll begehbar, ohne dass die Gefahr herabfallender Steine besteht.

Gleichzeitig bin ich mir über den momentanen Luxus meines täglichen Spazierganges im Klaren, denn bei mir auf dem Land gehen sich die Menschen schon aufgrund der nur spärlichen Bebauung und ausgedehnter Kultur- oder Naturflächen viel besser aus dem Weg, bzw. verteilen sich über eine viel größere Fläche, als dies in einer Großstadt möglich ist. Da ich in der schönsten Stadt Deutschlands den bisher längsten Teil meines Lebens verbringen durfte, bevor es mich, der Liebe wegen, auf das noch schönere platte Land verschlagen hat, kenne ich beide Extreme.
Mit Interesse beobachte ich, dass jeden Tag mehr Menschen, unter Einhaltung der Hygienekriterien im Grünen unterwegs sind, deutlich mehr zum Beispiel, als zur sonstigen „Hauptstoßzeit“ [Eat this, Anglizismus – Anmerkung meines inneren Kängurus] am Sonntagnachmittag. Mittlerweile brauche ich beide Hände, um die Zahl der mir begegnenden Mitmenschen zu zählen.

Als für meine seelische Stabilisierung wesentlich empfinde ich zwei Beschäftigungen, nämlich einerseits die permanent geleistete Stallarbeit, andererseits die täglichen Videokonferenzen mit meinen Freunden Sonja und Thorsten. Bildlich gesprochen, kann ich mich hier auf das solide Fundament meines psychischen Gebäudes verlassen, auf welchem ich eine zusätzliche tragende Strebe errichtet habe, die das seelische Dach über meinem Kopf hält.

Die Stallarbeit erdet mich ungemein, weil sie mir – wieder einmal – klar vor Augen führt, dass in dieser Umgebung die Uhren sprichwörtlich anders gehen. Jedwede menschliche Einteilung oder Bewertung von Zeiteinheiten ist im Stall egal. Tieren, Pflanzen und der damit verbundenen regelmäßigen Arbeit ist es schlicht egal, ob Werk- oder Feiertag ist, Normal- oder Ausnahmesituation vorliegt. Hier geht das Leben jenen Rhythmus, der die Erde seit Anbeginn ihrer Existenz prägt: den periodischen Wechsel von Tages- und Jahreszeiten, sowie wetterbedingten Wachstums- und Niedergangsprozessen der belebten wie unbelebten Natur. Diese simple Nüchternheit entschleunigt mich und gibt mir darüber hinaus das permanente Gefühl, etwas Sinnhaftes zu tun. Gute Versorgung macht gesunde, glückliche Tiere und Pflanzen, macht zufriedene, wertschätzende Menschen und das derart vervielfachte Glück strömt in mein eigenes Herz zurück und ist mein seelischer Dynamo.

Dem gegenüber steht die für mich neue Gewohnheit der täglichen Gespräche in den Videokonferenzen mit Sonja und Thorsten. Wie wichtig diese digitalen Zusammenkünfte mittlerweile für mich sind, vermag ich daran zu erkennen, dass mir etwas fehlt, wenn wir an einem Tag einmal nicht zusammenfinden. Die freundschaftliche Atmosphäre und vertrauensvolle Zusammenarbeit bei den „Erfahrungsexperten“, nicht zuletzt auf dieser Website, gibt mir ein Ziel, auf welches ich meine psychische Energie richten kann. Dieser neu gesetzte Fokus vermag zu kaschieren, dass mir die persönlichen Gruppentreffen meiner Selbsthilfegruppen ebenso schmerzhaft fehlen, wie die Treffen zur gemeinsamen Arbeit bei Sonja. Dabei benutze ich ganz bewusst das Wort „kaschieren“ und nicht zum Beispiel „ersetzen“, weil sie für mich kein absolut vollwertiger Ersatz der persönlichen Zusammenkünfte sind.

Würde ich die Stallarbeit als das mich erdende Fundament meiner Salutogenese in diesem extern verordneten Ausnahmezustand bezeichnen, dann ist die tägliche Videokonferenz sozusagen mein Wanderstab, der mir in der Ausnahmesituation zu seelischer Trittsicherheit verhilft.

Warum sträube ich mich, punktgenau zum 40. Tag meinen Beitrag zu „liefern“, sondern ihn stattdessen verspätet einzureichen?

Zuletzt bleibt die Frage offen, warum ich diesen Beitrag jetzt schreibe und nicht „auf den Punkt“ genau am 40.Tag nach unserem ersten Corona-Beitrag abgeliefert habe.
Das hat damit zu tun, dass ich, seit ich denken kann, in mir eine fast manische Aversion gegen Dinge habe, welche mein inneres Känguru (und sein berühmtes Vorbild von Autor Marc-Uwe Kling) sehr gerne und laut als „bürgerliche Kategorien“ beschimpft.
Spaßeshalber habe ich diesen Spieler meines inneren Teams auch mal als „inneren linken Gegen-Demonstranten“ bezeichnet. Dabei finde ich die Bezeichnung „mein inneres Känguru“ mittlerweile aber passender, weil diese Persönlichkeit hinsichtlich verbal glitzernder Facetten wie Humor, Ironie und Sarkasmus eine deutlich höhere Bandbreite hat, als „der innere linke Gegen-Demonstrant“.

Wie auch immer, Dinge wie „Pünktlichkeit“, „Stillsitzen“, „Dresscode“, „Kehrwoche“, „Gemeinschaftsarbeit in Kleingartenkolonien“, „Jubiläen“ und jede Form der Äußerungen wie „Das macht man halt so…“ oder „Das gehört sich so…“, oder, geradezu extatisch überspitzt, die Formulierung „weil ich das halt so will [und ich deswegen Recht habe, weil ich Dir weisungsbefugt bin, egal ob als Erziehungsberechtigter, Lehrer, Vorgesetzter, Behörde oder sonstiger Autorität – Einschub meines Recovery-Ichs zum besseren Veständnis, währenddessen mein innerer linker Gegendemonstrant seine Fäuste schüttelt]….“ sind mir ein Gräuel, bleiben zuverlässig in meinem geistigen SPAM-Filter hängen und bereiten mir, abhängig von meiner seelischen Befindlichkeit, kurz-, mittel- oder langfristige Beschwerden wie emotionale Nadelstiche, seelische Schmerzen oder psychische Höllenqualen. Wo das herkommt, weiß ich mittlerweile recht genau [„Das Übel fing mit der inneren Befruchtung an.“ oder „Die Wurzel allen Übels ist die aus der Vereinigung von Pollen und Stempel entsprungene Saat.“, um einen damals schon fast verrenteten Grundschullehrer (Naturkunde & Religion) zu zitieren], aber das soll hier (noch) nicht das Thema sein.

Außerdem habe ich, seit dem Beginn meiner Recovery, nach und nach das Konzept des „Leben im Hier und Jetzt“ verinnerlichen können. Mir diese Fähigkeit vermittelt zu haben, lässt sich mit der liebevollen und an meinen eigentlichen Bedürfnissen ausgerichteten Gestaltung der Innenarchitektur meines „psychischen Gebäudes“ vergleichen.
Für diese Fähigkeit bin ich meinen verschiedenen professionellen und betroffenen Bezugspersonen während der letzten gut sieben Jahre sehr dankbar.

Es ist nicht zuletzt dieser, aus dem Buddhistischen entlehnte, Fokus auf das momentane Erleben im Hier und Jetzt und das Wirken in der von mir beeinflussbaren Umgebung, der mir den Umgang mit dem Zustand der gegenwärtigen äußeren Krise erleichtert.

Dieses Lebensgefühl hat zweifelsohne auch dazu geführt, dass ich, während meines „früheren Lebens“, als regelmäßige Zäsuren wahrgenommene Anlässe und Koventionen, gegen welche ich bis dahin nur jene, von mir gerade beschriebene, Abneigung verspürte, ihren Status als mein Leben „absolut“ bestimmende Konstanten genommen habe, indem ich sie als „relativ“ zu betrachten lernte. Nicht, weil ich mir selbst gleichgültiger geworden bin, mir zu wenig wert bin, um mich zu feiern, sondern, indem ich jeden Tag und jeden Moment versuche, als etwas Einzigartiges und Besonderes anzusehen. Im Hier und Jetzt erlebe ich Raum und Zeit als relativ, ja nahezu bedeutungslos. Sein im Hier und Jetzt bedeutet für mich die Vereinigung von Überall und Nirgends, von Niemals und Ewig. Das Gefühl, am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein und dass jenes, was ich tue, sinnhaft ist.

Es ist für mich ein nur unzureichend verbal beschreibbarer Prozess, viel eher ein tiefes Gefühl, nicht zuletzt geboren aus den Fragen, die mich seit dem „Was-ist-Was“-Band „Physik“ aus meiner Schulbibliothek beschäftigt haben: „Was war vor dem Urknall?“ und „Wenn jedwede Materie eine maximale Lebensspanne hat, was kommt danach?“, gipfelnd in der Schöpfung meines ersten erfahrbaren seelischen Dämons, gleich dem „schwarzen körperlosen Monster, welches Licht verschlingt und Schatten gebiert, sich mit Vorliebe unter meinem Bett versteckt und sich tief am Grund meines seelischen Wegwerfbrunnens versteckt hält“ und seither mein inneres Kind mit der Ungewissheit quält, ob am Ende des aufglühenden Funkens, den mein Leben in der unendlichen ewigen Schwärze des Kosmos darstellen soll, für mich wie für alle nichts als raum- und zeitlose Schwärze wartet. Heute ahne ich, dass es das Auftauchen dieses, von mir so bezeichneten, Dämons war, welches den ersten spürbaren Riss in mein psychisches Gebäude gebracht hat und seitdem für den heftigen Streit und die Zerrissenheit meines inneren, wissenschaftlich orientierten Agnostikers und Nihilisten mit dem, zutiefst kindlichen und romantisierenden, spirituell suchenden Teil meines Ichs führt.

Epilog

Ich weiß nicht genau, was mich zu jenem vorgenannten Absatz getrieben hat. Noch während ich den eigentlich schon fertig getippten Text vom Textverarbeitungsprogramm auf die Internetseite eingefügt habe und in der Absicht, noch kurz Absätze und Layout gerade zu rücken, öffnete sich in meinem Kopf eine Falltür und die Worte sprudelten aus mir heraus. Sie scheinen mir der emotionale Schlusspunkt meines heutigen Textes zu sein, gleich einer formlosen, stinkenden Masse fauligen seelischen Schlamms, der sich aus den Rissen in den Zwischenwänden meines psychischen Gebäudes, lange aufgestaut und an meiner Substanz zehrend, endlich seinen Weg ins Freie bahnen durfte. Hofft mit mir, dass mit dem kurzfristigen Druck nun auch der langfristige Schmerz nachlassen darf.

Über 40 Tage Kontaktsperre, geschlossene Begegnungsstätten, fehlende Umarmungen.

Ihr fehlt mir, ganz persönlich, und viele Umarmungen warten darauf, dass sie sich endlich wieder vereinigen dürfen.

Bis dahin, bleibt vor allem eines: Gesund!

Liebe Grüße von Eurem Schmusehamster (ak)

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