Zieloffene Suchtarbeit – Neue Wege aus der Sucht

Am Donnerstag, den 15.06.2023 fand in der alten Kirche Lobberich der 10. Fachtag des GPV Kreis Viersen in Zusammenarbeit mit der LVR-Klinik Viersen und Kontakt-Rat-Hilfe Viersen zum Thema „Sucht und … Grundlagen“ statt.

Im Morgenprogramm des Fachtages wurde ein Thema behandelt, das mich nachhaltig beeindruckt hat.

Der Referent, Herr Matthias Nanz vom Institut für innovative Suchtbehandlung und Suchtforschung (ISS), berichtete anschaulich aus seiner Arbeitspraxis, die die Behandlung von Suchterkrankung auf neue Füße stellt.

Wie vermutlich viele andere auch, habe ich bisher im Bereich der Suchtbehandlung nur von völliger Abstinenz als Behandlungsweg gehört. Herr Nanz und sein Team gehen mit ihren Kooperationspartnern seit nunmehr zehn Jahren neue Wege des Umgangs mit Betroffenen einer Suchterkrankung. Das Programm trägt den Titel „Zieloffene Suchtarbeit“ (ZOS).

Was ist die Grundlage von ZOS?

Auf der Internetpräsenz der ISS Nürnberg ist zu lesen:

Wir verfolgen das Ziel, Menschen bei der Bewältigung ihrer Suchtproblematik zu unterstützen – vor allem diejenigen, die sich über ihr angestrebtes Ziel im Unklaren sind oder im Moment den Weg der Abstinenz nicht begehen möchten.

Trust in you, we do!

– ISS Nürnberg –

Durch motivierende Gesprächsführung wird eine enge Zusammenarbeit des Betroffenen mit dem behandelnden Team erreicht. Eine Beschreibung des Programms ist hier zu finden: https://www.iss-nuernberg.de/zieloffene-suchtarbeit/#was-ist-zos

Suchtbehandlung ohne Abstinenz? Wie geht das?

Herr Nanz erläuterte, dass es neben der Abstinenz noch die Ansätze Suchtmittelreduktion und Suchtmittelsubstitution zur Verminderung der gesundheitsschädlichen Einflüsse gibt, die ebenfalls betrachtet werden sollten.

An Hand kleiner, aber deutlicher Fallbeispiele zeigt er auf, dass in der Betrachtung einer Suchtmittelabhängigkeit nicht nur verschiedene Perspektiven auf die Situation berücksichtigt werden müssen, sondern auch ein Betroffener selbst nicht immer den Umfang und die Abstufung seiner Suchtabhängigkeit genau kennt. Herr Nanz und sein Team haben Diagnose-Hilfsmittel entwickelt, die eine genaue (Selbst-)Betrachtung ermöglichen. Sie beruhen darauf, die betroffene Person zu einer ehrlichen Selbsteinschätzung anzuleiten, die Art und den Umfang der Suchtelemente zu beschreiben und individuelle Ziele für jedes entdeckte Suchtelement zu formulieren.

Diese Momentbetrachtung bildet die Grundlage individuellen zieloffenen Suchtarbeit mit der betroffenen Person. Hierbei wird aufgeklärt, statt zu verurteilen, wird bestärkt, statt zu verdammen und es wird nicht die Entgiftung und die vollständige Abstinenz vom Suchtmittel zur Grundlage der Behandlung erklärt, sondern gemeinsam mit der betroffenen Person kleinschrittige Ziele definiert, die sinnvoll, erreichbar und überschaubar sind.

Diese Methode gesteht der betroffenen Person zu, für sich selbst Entscheidungen treffen zu können und zu dürfen.

Ich finde das großartig. Salutogenese, Empowerment und Recovery in einem neuen erfolgreichen Programm zum Umgang mit Suchtereignissen.

Wann ist ein Rückfall ein Rückfall?

Das ZOS-Programm der ISS betrachtet erneuten, ungeplant hohen Konsum der Suchtmittel nicht als Drama mit weitreichenden Folgen, sondern macht genau da weiter, wo der Betroffene sich grade befindet. Im Vortrag gewann ich den Eindruck, dass eher nach der Devise „Hinfallen, aufstehen, Krönchen richten, weitergehen“ gehandelt wird als „einmal abhängig, immer abhängig“. Die behandelnden Teams gehen von einem Menschenbild aus, in dem jeder Mensch eigene Entscheidungen treffen darf und das Team bei der Erreichung der selbstgesetzten Ziele unterstützt. Ziele, die immer wieder gemeinsam auf ihre Erreichbarkeit geprüft werden. Ziele, die erreicht werden, motivieren für jeden weiteren Schritt.

Und die Wirksamkeit?

Die Wirksamkeit von Reduktions- und Substitutionsprogrammen ist mittlerweile durch mehrere Studien eindeutig belegt. Auch das ISS hat eigene Studien durchgeführt, eine davon in Frankfurt mit erfreulichen Ergebnissen, die die internationalen Studien bestätigen.

Mittlerweile arbeitet das Institut ISS mit einigen namhaften Trägern der Sozialpsychiatrie erfolgreich zusammen und bietet Qualifikationen und Begleitung für die Implementierung von ZOS in der Praxis an.

Und jetzt?

Jetzt möchte ich es am liebsten laut in die Welt rufen, dass es neue Wege in der Suchtbehandlung gibt. Auch hier wäre ein gutes Betätigungsfeld für Experten aus Erfahrung, Peers und Selbsthilfe-Erfahrene, die sich in diesem Programm spezialisieren könnten.

Das ISS bietet am 22.11.2023 in der Villa Leon Nürnberg den „Fachtag Zieloffene Suchtarbeit – 10 Jahre Implementierung“ https://www.iss-nuernberg.de/event/fachtag-zieloffene-suchtarbeit-10-jahre-implementierung-22-11-2023-villa-leon-nuernberg/ an, den ich hoffentlich werde besuchen können.

Ein Kommentar

  • Liebe Sonja, danke, toller Hinweis. Und ja das ist es wert es laut hinaus zu rufen. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten: Ich hab überlebt und ich lebe gern und bin glücklich. Glück ist ja kein Dauerzustand doch ich erlebe es immer wieder und nüchtern. Ich finde es in der Natur, in Begnungen mit Menschen, auf Reisen, wenn ich etwas Neues lernen kann. Ihr Erfahrungsexperten bereichert auch mein Dasein ;)) Substitution hat geholfen. Therapie hat geholfen. Selbsthilfe hat geholfen. Dabei hatte mich die Rentenversicherung schon abgestempelt als nicht rehabilitierbar. Ich bin frei und arbeite – unterstützend in der Psychiatrie als Peer. Ich rauche ab und zu einen schmalen Sticky mit wenig Gras und Tee (habe Nikotin rauchen ganz aufgegeben). Im Sommer ist auch Mal ein Radler drin, erfrischend und lecker. Zugleich geh ich regelmässig in eine Sucht-Gruppe. Ich habe mir Grenzen gesteckt: Keine harten Drogen, kein Nikotin, keine Medikamente, die abhängig machen. Wenn es außer Kontrolle gerät, hol ich mir Hilfe, z.B. Krisenintervention in Form eines Klinikaufenthalts. Ich hatte in den über 40 Jahren, seit Beginn meiner „Drogenkarriere“ 1978, 15 Entgiftungen, 5 Rehas, war 3 x zur Krisenintervention in der Psychiatrie. Zudem ambulante Interventionen. Ich hatte komplett cleane Jahre, völlige Abstürze und Zeiten in denen ich gekämpft habe ums nüchtern sein. Und Zeiten mit Akzeptanz und Substitution, mit Beikonsum, Cannabis war ferner liefen, dann Abdosierung, Abstinenz. Zieloffene Suchtarbeit finde ich gut und wichtig. Verluste, jemanden nicht helfen zu können, gehören auch dazu. Ich habe einige Menschen verloren. Es ist traurig, wie viele immer noch sterben an der Sucht bzw. an den Folgen der Sucht – evtl. alleine, einsam. Menschen, die sich aufgegeben haben, nicht mehr daran glauben, dass sie Clean oder trocken leben können oder wollen. Menschen, die nicht ausreichend Hilfe erhalten. Ich finde, diese Menschen haben auch das Recht auf eine quasi palliative Begleitung. Und ein No-Go ist es, jemanden als hoffnungslosen Fall abzustempeln. Daher finde ich es wichtig dass es möglichst viele niedrigschwellige Angebote gibt. Erste Hilfe Kurse, Naloxon, Konsum- Räume, Aufenthaltsorte und Angebote an den Feiertagen, Krisenübernachtung, Freiheit der Wahl von Substitutions- und Therapieangeboten… Housing first usw. Hilfe auch für die und mit den Haustieren Betroffener. Z.B. Tiergestützte Therapie, Einrichtungen in denen die Tiere mit aufgenommen werden können. Familien- und Jugendhilfe und Peer-Beratung! Freundeskreise. Selbsthilfegruppen. Angebote für die Angehörigen.

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